Alle Orte, die man knicken kann
größte sechs Meter hoch und dreigesichtig, dienen Affen als Klettergerüst. Einige Affen erscheinen zahm und lassen sich sogar streicheln, allerdings lieber von Europäern als von Indern, denn die Inder wissen, dass die süßen Bälger Tollwut übertragen. Wer gebissen wurde, kann sich auf einer Sänfte die hundertzwanzig Stufen den Hügel hinab zum Ufer schaukeln lassen. Träger aus der Kaste der Krankentransporteurestehen mit auf Bambusstangen gebundenen Schemeln bereit.
Ghandi Museum. Das zweigeschossige Holzgebäude steht im villenreichen, englisch geprägten Stadtteil Fort (wegen der Burg, die hier einst stand) an der vergleichsweise ruhigen Laburnum Road. In diesem Haus namens Mani Bhavan lebte der spätere Nationalheld Ghandi vor neunzig Jahren. Hier und nirgends anders beschloss der reiche Sprössling, den Baumwollstoff für seine Kappe von nun an selbst zu spinnen und keine Kuhmilch mehr zu trinken. Grund genug, ein Museum einzurichten. Die Ghandi-Statue am Eingang dient als Spendeneinwurf. Der Treppenaufgang wird von unscharfen Fotos und vergilbten Zeitungsausschnitten begleitet. Oben hängen ebenfalls Fotos und Zeitungsausschnitte. Der wichtigste Raum zeigt eine Matratze plus ein Kissen, ein Schreibpult und drei Spinnräder. Barack Obama war mal hier, blieb aber, wie die lokalen Reporter bemängelten, «nur so lange, wie die Höflichkeit gebot, und keine Sekunde länger». Wem das Verständnis für dieses Verhalten fehlt, schaut rein und versucht länger auszuharren.
Rajasthan
Rundreisen durch Rajasthan führen laut Katalog zu Marmorpalästen, alten Städten und Hotels mit Dusche nebst angeschlossenen Kamelausflügen und Elefantenritten. Die Wahrheit ist staubig und schmerzhaft. Und sie hat einen Geruch. Viele Gerüche. Auspuffabgase. Verbrannter Müll. Urin. Staub. Menschenkacke. Räucherstäbchen. Schweiß. Zitronellaöl. Benzin. Kuhfladen. Jasmin. Autan. Rosen. Verbranntes Butterfett («Ghee»). Es gibt niemals einen frischen Duft. Nicht in Indien. Rajasthan ist so groß wie Deutschland.Die sieben oder acht sehenswerten Städte liegen dreihundert bis sechshundert Kilometer auseinander. Zu erreichen sind sie auf Straßen, auf denen sich außer Rikschas und klappernden Restautos vor allem Eselsgespanne, Ziegenherden und Handkarren drängeln, gelegentlich aufgehalten von fegenden Nonnen oder einer bunten Beerdigungsprozession. Reisebusse schaffen auf Überlandstrecken dreißig bis vierzig Kilometer pro Stunde. Bei der Durchquerung von Steppen oder Steinwüsten kann das eintönig werden. Doch das gedrosselte Vorankommen bietet auch Abwechslung, denn nur bei langsamem Tempo lässt sich die Rekordzahl von Schlaglöchern in vollem Umfang auskosten. Die wenigsten Krater befinden sich in Straßenmitte, weshalb dort alle Lebewesen zu gehen, rollen oder kriechen versuchen. Entgegenkommende Fahrzeuge halten stur aufeinander zu und weichen einander erst in letzter Sekunde aus. Manchmal schaffen sie das nicht, daher die vielen Wracks am Rand der Piste. Theoretisch soll immer der Schwächere dem Stärkeren nachgeben, also der Mönch dem Radfahrer, der Radfahrer dem Moped, das Moped dem Auto, das schwächere Auto dem stärkeren Auto, das stärkere Auto dem Bus, der Bus dem LKW, der LKW der Kuh. Doch häufig kommt es zu fehlerhaften Selbsteinschätzungen («mein Auto ist stärker») mit Folgen, die für ein Land mit anderthalb Milliarden Menschen keine Bedeutung haben. Besucher, die ihr eigenes Leben für erhaltenswert erachten, lernen hier Demut, auch wenn sie das überhaupt nicht möchten.
Udaipur. Der Stadtpalast kommt Nutzern des Nachmittagsfernsehens sonderbar vertraut vor. Er spielt die Hauptrolle in Fritz Langs ewig wiederholten Abenteuerfilmen «Der Tiger von Eschnapur» und «Das indische Grabmal». Genauso spannend wie diese Filme ist der Palast auch. Er ist vollgestopft mit Rentnerplunder. Leiernde Guides in schwer unterscheidbaren Sprachen versuchen ihrmattes Gefolge wach zu halten, damit sie es anschließend noch in die Läden schleifen können. Ein dreibogiges Tor namens Tripolia, ah ja, Höfe, Terrassen, Korridore, Mosaiken, Wandbehänge, dürre Gärten. Ein Balkon mit eigenem Namen, Suraj Gokhda, von dem aus der Maharana und die Maharani dem Volk zuwinkten, wenn es hungerte. Nachfahren der Herrscher-Familie geistern immer noch durch einen Teil des Palastes. Der gegenwärtige Maharana geht auf die achtzig zu und schlurft unter Aufsicht seiner Pflegerinnen über eine Gesamtfläche von
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