weiter das archivierte Material durch. Sie war fast am Ende angekommen, als ein Foto geladen wurde, das sich langsam auf dem Bildschirm aufbaute. Es zeigte eine Frau von einer Schönheit, die alle Blicke auf sich ziehen würde. Selbst ein flüchtig erhaschter Schnappschuss für die Zeitung ließ in dieser Hinsicht keinen Raum für Zweifel. Dunkelblondes Haar und offenbar perfekte Haut, die regelmäßigen Züge eines Models und ein Mund, dessen volle Lippen Sinnlichkeit andeuteten. »Wow«, sagte Charlie und bewunderte die wohlproportionierte Figur und die unbestreitbar schönen Beine, die allmählich erschienen.
Aus der Bildunterschrift ergab sich, dass diese atemberaubende Frau im Vordergrund Philip Carlings Witwe Magdalene war. »Sieh mal an, was aus dir geworden ist, Maggot«, murmelte Charlie, vom Wunderwerk der Gene verblüfft. Aber als sie den Rest des Bildes studierte, merkte sie, dass sie keine Bildunterschrift brauchte, um die Frau neben Magda zu erkennen. Die Jahre hatten Jay Macallan Stewarts zierlicher Schönheit nicht geschadet, noch hatte die Alltagsroutine ihre Haltung beherzter Courage abgeschwächt.
Charlie war sicher, dass sie das Grundproblem, die Herkunft der Zeitungsausschnitte, gelöst hatte, allerdings warf das mehr Fragen auf, als damit beantwortet waren. »Wenn meine Tochter mit Jay Stewart herumhängen würde, dann würde ich genauso handeln«, murmelte sie. Und mit ein paar Tastenanschlägen war sie in ihrem E-Mail-Programm.
Betreff: Mehr Fragen als Antworten
Datum: 23 . März 2010 , 15 : 35 : 26 WEZ
Von:
[email protected] An:
[email protected] Ich habe deinen Rat befolgt. Es war offensichtlich, dass man mir nicht alle veröffentlichten Artikel geschickt hatte, also habe ich versucht, mit Google News herauszufinden, was fehlte. Und siehe da, ich entdeckte fast sofort, dass keine der Versionen, die ich erhalten habe, den richtigen Namen der Witwe nannte. In Wirklichkeit ist sie nicht ›Mrs. Magdalene Carling‹, sondern ›Dr. Magda Newsam‹, alias Maggot. Oder zumindest hieß sie so, als sie zehn und ich einundzwanzig war und auf sie und ihre Geschwister aufpasste. Sie ist die älteste Tochter von Corinna Newsam, der Philosophiedozentin am St. Scholastika College, deren Studentin ich war und die mich oft als Babysitter einsetzte, bis im letzten Studienjahr mein brennender Wunsch, einen guten Abschluss zu schaffen und daneben doch noch Spaß zu haben, dem ein Ende bereitete. Jedenfalls schickten wir uns danach eine Weile Weihnachtsgrüße und hielten Kontakt, der aber nicht so eng war, dass sie Magdas Verbindung zu diesem Fall erwähnte.
Als ich weiterlas, stieß ich auf ein Foto von Magda, aus der eine umwerfende Schönheit im Stil von Prinzessin Diana geworden ist. Und hinter ihr stand noch eine Person, die ich erkannte. Sie hieß früher einfach Jay Stewart, aber jetzt ist sie als Jay Macallan Stewart bekannt, eine Dotcom-Millionärin und Bestseller-Autorin eines Buches über ihre schreckliche Kindheit. Inzwischen ist sie die Chefin von 24 / 7 , dem Internetverlag für digitale Reiseführer. Vielleicht hast du sie in
White Knight
gesehen, manchmal tritt sie als Gastinvestorin auf. Sie war einige Jahre nach mir am Scholastika, aber ihr Bekanntheitsgrad reichte aus, um das auszugleichen. Sogar unter den Lesben von Brighton kursierten Gerüchte über Jay Stewart.
Ich erinnere mich, dass sie von rücksichtslosem Ehrgeiz war, eine dieser Streberinnen aus einfachen Verhältnissen, die beherzt jede Gelegenheit voll und ganz ausnutzen und denen es egal ist, auf wem sie beim Wettlauf nach ganz oben herumtrampeln. In dem Jahr, nachdem ich Examen machte, wurde sie zur Vorsitzenden des Junior Common Room [1] gewählt. Erst als sie sich den Posten gesichert hatte, outete sie sich auf sehr spektakuläre und freche Weise als Liebhaberin der leitenden Redakteurin einer Hochglanz-Modezeitschrift. Einige der Dozentinnen wollten sie rauswerfen, aber sie hatte sich immer sehr in Acht genommen und keine der Regeln verletzt.
Ich stelle mir also vor, wenn ich Corinna Newsam wäre und Jay Stewart würde sich an meine Tochter ranmachen, dann würde ich versuchen, schmutzige alte Geschichten auszugraben, die Stewart in den Mülleimer der Geschichte verbannen würden. Aber sie will mich wahrscheinlich nicht direkt ansprechen; meine Solidarität als Lesbe könnte stärker sein als die sehr alte Loyalität gegenüber ihr und Maggot.
Jetzt, da ich das alles herausbekommen habe, bin ich nicht