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Alle Rache Will Ewigkeit

Alle Rache Will Ewigkeit

Titel: Alle Rache Will Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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das Letzte, was sie wollte. »Nein, ich fahre doch und will mir lieber einen wirklich guten Wein zum Essen erlauben. Außerdem …« Charlie streckte sich, um an ihren Rucksack heranzureichen. »Aus irgendeinem Grund habe ich das hier aufgeschoben. Aber ich glaube, ich bin jetzt so weit, dass ich mich damit beschäftigen muss.« Sie zog ein Buch aus ihrem Rucksack und hielt es Maria hin. »
Ohne Reue
von Jay Macallan Stewart.«
    Maria zog ihren Pullover aus und begann, ihre Hose aufzuknöpfen. »Ich weiß, warum du dich davor gedrückt hast«, sagte sie.
    »Warum? Und ich habe es übrigens ernst gemeint. Ich muss lesen, Maria. Und du lenkst mich ab.«
    Maria streckte Charlie die Zunge heraus. »Das tu ich ja gar nicht für dich. Wenn du lesen willst, werde ich meine müden Muskeln im Bad einweichen. Der Grund, wieso du dich nicht hinter Jays Buch geklemmt hast, ist sehr einfach.«
    »Ich dachte, ich wäre hier die Psychiaterin? Was ist denn der Grund?«
    Maria schlüpfte aus ihrer Hose. »Du hast Angst, du könntest sie mögen.«
    »Meinst du?«
    »Ja. Denn wenn sie dich mit ihrem Buch über ihre Kindheit bezaubert, wirst du dich sehr anstrengen müssen, Corinnas Auftrag auszuführen und sie und Magda voneinander zu trennen. Du weißt bestimmt, dass es so ist.«
    Charlie, die nicht wirklich überlegt hatte, warum sie so viele Ausreden erfand, um Jays Buch nicht lesen zu müssen, fand an Marias Argumentation nichts auszusetzen. Es war beruhigend, dass man so gut verstanden wurde. »Du könntest recht haben«, antwortete sie.
    Als Maria aus dem Bad kam, war Charlie schon halb durch Jays frühe Jahre, die sich durch jede Menge Drogen auszeichneten, mit denen sich ihre Mutter und die Reihe ihrer aussichtslosen Freunde zugedröhnt hatten. Es war ein verstörender Bericht über eine Abwärtsspirale, gesehen durch die verständnislosen Augen eines Kindes. Jays Mutter Jenna war zu Anfang ein nettes Mädchen aus der bürgerlichen Mittelschicht, das vom Zeitgeist der sechziger Jahre mitgerissen wurde. Das Festival auf der Isle of Wight 1968 hatte ihren Lebensweg verändert und sie aus dem Gravitationsfeld des Vorstadtlebens am Londoner Stadtrand in den Dunstkreis von Musikern, Künstlern und Schriftstellern versetzt.
    Am Anfang war es wahrscheinlich eine ganz coole Sache, dachte Charlie. Aber die Drogen wurden für Jenna wichtiger als alles andere, und nach und nach geriet sie in immer schlechtere Gesellschaft. Die Rockstars und Dichter, die ihre Werke veröffentlicht, und Künstler, die ihre Bilder ausgestellt hatten, waren weitergezogen und aufgestiegen, während Jenna nach unten trudelte. Als Jay 1974 auf die Welt kam, lebte Jenna in einem besetzten Haus und arbeitete an einem Marktstand auf dem noch nicht recht etablierten Camden Market.
    Sie waren von Ort zu Ort gezogen, von der Stadt aufs Land und wieder zurück. Auf den wenigen Fotos sah man, dass Jenna eine Schönheit gewesen war, selbst als sie schon durch Drogen gezeichnet war. Eine Reihe verschiedener Männer und Wohnorte waren die Meilensteine von Jays Kindheit. Sie hatte nie eine Schule besucht, aber keine Behörde hatte nach ihr gefahndet, weil Jenna ihre Geburt nicht gemeldet hatte. Jay berichtete von einem Gespräch, das sie mitbekommen hatte, bei dem Jennas neuester Freund diese ausschalt, weil sie kein Kindergeld bekam wie die anderen Mütter der Gruppe des fahrenden Volks, dem sie damals angehörten. »Das ist ein kleiner Preis, den man für die Freiheit zahlt«, hatte Jenna geantwortet. »Mein Kind kann sich frei in der Welt bewegen. Sie ist nicht an den Staat gefesselt.«
    Weil es nie etwas Bleibendes gab, weil Drogen unkalkulierbar sind, weil Jenna fast alles für den nächsten Schuss tat, sah Jay mehr, als ein Kind sehen sollte. Sie wusste, wie es ist, wenn man hungrig zu Bett geht. Sie wusste, wie es ist, zusehen zu müssen, wie die eigene Mutter von Männern geschlagen wird. Sie wusste, wie es ist, wenn Frauen zum Sex gezwungen wurden, obwohl sie vorher nein gesagt hatten. Und irgendwie brachte sie sich in dem ganzen Durcheinander selbst das Lesen bei. Sie lernte nicht nur zu überleben, sondern auch sich zu schützen. Sie kannte Kinder, die sexuell missbraucht wurden. Sie sah, wie verbrecherische Mistkerle sie sich griffen. Und irgendwie lernte Jay zu vermeiden, dass sie diejenige war, die ausgewählt wurde.
    Charlie fand das alles nur allzu glaubhaft. Es gab auch Momente, in denen ihre Berufserfahrung sich einschaltete, und sie begriff, dass Jay

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