Alle Rache Will Ewigkeit
sich selbst Urteile zuschrieb, die sie sich erst später aus dem Rückblick heraus gebildet haben konnte. Wie zum Beispiel die Behauptung, sie hätte im Alter von sieben erkannt, dass sie nicht nur Freiheit hatte, sondern auch in einem Gefängnis der Unwissenheit saß.
Ich spionierte anderen Kindern nach. Manchmal war das leichter, manchmal schwerer. Wir wohnten eine Weile in einem Wohnwagen am Waldrand irgendwo in Somerset. Jennas Freund hieß Barry und arbeitete ab und zu in der Kneipe in einem nahe gelegenen Dorf.
Eines Abends folgte ich ihm, als er durch den Wald zur Arbeit ging, so fand ich den Weg zum Dorf heraus. Weil der Wald sich bis zu den letzten Häusern erstreckte, war das Spionieren leicht.
Das Leben der Kinder dort war offenbar ganz anders als meines. Sie trugen jeden Tag die gleichen Kleider, wenn sie in die Schule gingen. Das konnte ich nicht verstehen. Manchmal trug ich ein paar Tage die gleichen Kleider, aber nicht jeden einzelnen Tag. Und andere Kinder machten sich deshalb über mich lustig.
Wann immer diese Kinder nach Haus kamen, gab ihnen jemand etwas zu trinken und etwas Gutes zu essen. Sie mussten sich nicht irgendwo Nahrungsmittel suchen oder sich mit dem zufriedengeben, was sie finden konnten. Und sie sahen aus, als nähmen sie das alles als selbstverständlich hin, als gäbe es gar keine Frage; es hatte einfach so zu sein.
Sie durften dasitzen und allein fernsehen, und das hieß, dass sie auswählen konnten, was sie sehen wollten. Manchmal gab es zwei oder noch mehr Räume mit Fernsehern. Ich war daran gewöhnt, dass ich mich mit dem abfinden musste, was Jenna und ihr Freund sehen wollten. Und manchmal war mir unverständlich, warum sie bestimmte Dinge aussuchten. Besonders die Pornos, die keines der Kinder, denen ich nachspionierte, je sah.
Ich sollte an dieser Stelle wohl daran erinnern, dass Pornos in den siebziger Jahren eine völlig andere Sache waren. Zunächst einmal hatten Erwachsene Schamhaar. Man sah auch nie wirklich einen steifen Penis. Es gab viel Weichgezeichnetes, schreckliche Berieselungsmusik, und die Schauspieler waren so unglaublich schlecht, dass sogar ich das mitbekam. Im Vergleich zu dem, was man jetzt im Fernsehen sieht, ganz zu schweigen vom Internet, war es ziemlich harmlos. Aber trotzdem hätte ich es wahrscheinlich nicht sehen sollen.
Es war faszinierender Lesestoff, fand Charlie. Buchstäblich faszinierend. Man konnte nicht aufhören zu lesen, weil man wissen wollte, wohin Jay einen mitnehmen würde. Sie hatte die Gabe, ihre ungewöhnlichen Erlebnisse mit Erfahrungen des ganz alltäglichen Lebens zu verknüpfen. Es gab so viele solcher Berührungspunkte, dass der Leser das Gefühl bekam, dieses sonderbare Leben hätte fast sein eigenes sein können. Der Kontrapunkt dazu war die Art und Weise, wie sie beständig ihre Wirklichkeit und das Erleben der Mittelschicht gegenüberstellte. Es erinnerte an die Stimmung von Craig Raines berühmtem Gedicht über den Marsmenschen, der einen Brief nach Hause schreibt. Als Leser verstand man gut, dass Jay einen großen Teil ihres jungen Lebens mit dem Versuch zugebracht hatte, sich die Dinge zu erklären, zu denen es in ihrer eigenen Welt keine Entsprechung gab.
»Wie ist es?«, fragte Maria.
»Ich bin nicht sicher, ob ich sie mag, aber es ist unmöglich, sie nicht zu bewundern. Das Elend und das Chaos ihrer Kindheit bringen einen fast dazu, vor Mitleid mit ihr in Tränen auszubrechen. Sie hat nicht nur überlebt, sie hat sich ein Leben geschaffen, das sie sich als Kind überhaupt nicht hätte vorstellen können. Ich kann es kaum erwarten, zur Verwandlung zu kommen.«
»Du meinst, als sie nach Oxford ging?«, sagte Maria, warf ihr Handtuch über einen Stuhl und schritt nackt durch das Zimmer, um frische Kleider anzuziehen.
»Nein. Da ist es zu Ende. Ich spreche von der Zeit davor. Ihre Mutter entwickelte sich vom unglücklichen Junkie und zügelloser Hippiefrau zur wiedergeborenen Christin. Und nicht nur irgendeine Christin. Sie stürzte sich kopfüber in eine ziemlich verklemmte evangelikale Sekte. Offensichtlich hatte sie eine starke Anlage zur Abhängigkeit. Heroin oder Jesus, das schien keinen großen Unterscheid zu machen.«
»Oho. Das muss ja ein ganz schöner Wandel gewesen sein. Wenn du willst, fahre ich morgen den größten Teil der Strecke, damit du weiterlesen kannst.«
»Ich könnte ja vorlesen, wenn du möchtest«, bot Charlie an, steckte als Lesezeichen eine Hotelpostkarte ins Buch und legte es weg.
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