Alle Rache Will Ewigkeit
Kents fatale Auswirkungen auf ihre Psyche in den Hintergrund drängen. Und noch wichtiger war, dass sie dadurch zu einer Besichtigung des Tatorts von Philip Carlings Ermordung käme. Sie glaubte nicht, dass sich das College-Gelände seit ihrer Studienzeit wesentlich verändert hatte. Oxford bildete sich schließlich viel auf die Erhaltung der Tradition ein. Aber es würde Unterschiede geben, selbst wenn sie nur geringfügig waren. Wenn – und das war jetzt noch ein sehr großes Wenn – sie sich mit Corinnas mutmaßlichem Justizirrtum befassen würde, musste sie die Sache genauso behandeln wie jeden anderen Fall und jedes Vorurteil beiseitelassen. Und obwohl ihre Ermittlungen sich auf das Innenleben der Menschen bezogen, schadete es nie, den Tatort persönlich in Augenschein zu nehmen.
Damals, als Charlie hier als junge Studentin gelebt hatte, war Scholastika noch ein College ausschließlich für Studentinnen gewesen, eine der letzten nach Geschlechtern getrennten Institutionen. Wie St. Hilda’s hatte man dem Druck, auch Männer aufzunehmen, widerstanden, denn man hielt eisern an der Überzeugung fest, eine Universität wie Oxford solle seinen Studenten die volle Bandbreite an Möglichkeiten bieten. Schließlich sah man sich ironischerweise aufgrund der harten wirtschaftlichen Zwänge, die sich aus der Gesetzgebung zur Gleichstellung der Geschlechter ergaben, veranlasst, diesen Standpunkt aufzugeben. Deshalb war Scholastika nun wie jedes andere College der Universität offen für Männer und Frauen. Anders als bei den älteren Männer-Colleges fehlte den Gebäuden Schönheit oder erhabene Vornehmheit; obwohl die Anlagen ausgedehnt und geschmackvoll waren, hatte das College keine besonderen Attraktionen für Touristen zu bieten. Man musste deshalb weder Eintritt zahlen, noch gab es eine Ausweiskontrolle, um festzustellen, ob ein Besucher berechtigt war, das Gelände zu betreten. Jedermann, so schien es, konnte nach Gutdünken im Park und auf den Wiesen des St. Scholastika College umherschlendern.
Das Trimester war gerade zu Ende gegangen, deshalb wurden Koffer und blaue IKEA -Taschen zu den Autos geschleppt, während Eltern herumstanden und die jüngeren Studenten sich bemühten, so auszusehen, als freuten sie sich, nach Hause zu fahren. Manche, die gegen extra Bezahlung noch eine Woche länger blieben, faulenzten auf den Bänken, selbstzufrieden und noch nicht im engen Korsett des alten Lebens, das sie wieder umfangen würde.
Charlie schlüpfte am Pförtnerhäuschen vorbei und lief über den Parkplatz vor Magnusson Hall zu dem Teil des Parks, wo das Hochzeitsfest stattgefunden hatte. Er hatte etwa die Größe eines Fußballplatzes, schön gepflegter Rasen umgeben von einem Kiesweg und daneben Blumenrabatten, die allerdings im März kahl und nicht sehr ansprechend aussahen. Aber Charlie wusste, dass hier im Juli, als Magda und Philip geheiratet hatten, eine üppige Blumenfülle mit allen Schattierungen von Grün geleuchtet haben musste. Mitten auf dem Rasen standen zwei Libanonzedern, größer und mächtiger als Charlie sie in Erinnerung hatte. Auf dem hinteren Teil der Grasfläche stand eine Bank, wo Charlie im Sommer oft morgens gesessen und gelesen oder einfach mit leerem Blick versucht hatte, die Dinge in ihrem Kopf für das nächste Seminar zu ordnen, während der breite braune Fluss träge vorbeifloss.
Charlie überquerte das Gras und versuchte, sich den Hochzeitstag im Sommer vorzustellen, der so gewalttätig geendet hatte. Bestimmt hatte es ein Festzelt gegeben, vielleicht zwei. Tische auf dem Rasen. Eine Band, eine Tanzfläche. Überall Leute, wechselnde Gruppierungen der Gäste im Gespräch, Tanz. Es war schwierig gewesen, den Überblick darüber zu behalten, wohin bestimmte Personen gingen. Das betraf sogar die Braut und den Bräutigam.
Hinzu kam, dass es bei solchen Hochzeiten im College keine nennenswerten Sicherheitsmaßnahmen gab. Genauso wie jeder beliebig ins College hinein- und wieder hinausspazieren konnte, war dies auch bei privaten Feiern möglich. Besonders bei Veranstaltungen im Freien. Es gab keine wirkungsvolle Möglichkeit, Sicherheit zu gewährleisten, weil es andere Leute auf dem Gelände gab, die berechtigt waren, sich in den Gebäuden und im Park zu bewegen. Die Seitentür von Magnusson Hall war bestimmt offen gewesen, damit die Gäste die Toiletten benutzen konnten. Also hätte jedermann, der sich in Magnusson Hall befunden hatte, herauskommen und sich unter die Gäste mischen
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