Alle Rache Will Ewigkeit
aber dieser frühe Triumph vermochte immer noch, sie zu beglücken. Es war merkwürdig, wie stark diese Erinnerungen waren. Sie fragte sich, ob sie noch so deutlich wären, wenn Magda nicht wieder in ihr Leben getreten wäre.
Die Tatsache, dass Corinna in jenem Jahr der Mittelpunkt in Jays Gefühlsleben gewesen war, ließ sich nicht leugnen. Sie hatte sie verehrt, von ihr geträumt, Phantasien entwickelt und war beschämend dankbar gewesen, dass es ihr erlaubt war, dem Objekt ihrer Wünsche so nah zu sein. Aber sie war immer vorsichtig gewesen, hatte jedes Wort und jede Geste vermieden, die bei Corinna den Verdacht hätten erregen können, dass etwas »Unnatürliches« an ihren Gefühlen sei. Soweit Corinna und alle anderen wussten, war Jay eine strebsame junge Studentin, die bestens mit Kindern umgehen konnte und die es deshalb verdient hatte, unter Corinnas Fittiche genommen zu werden.
Aber mit Magda würde sie über all das nicht sprechen. Jay seufzte und erhob sich. Sie musste sich jetzt in die Vergangenheit versenken und durfte nicht zulassen, dass die Gedanken an Magda sie in die Gegenwart zurückzerrten. Sie ging in die Küche und nahm eine Packung Gitanes und ein abgenutztes Zippo-Feuerzeug aus der Schublade des großen Kiefernholztisches.
Draußen auf der Terrasse zündete sie sich eine der starken französischen Zigaretten an und hielt den Rauch im Mund. Jahrelang hatte sie nicht mehr richtig geraucht, beim Schreiben von
Ohne Reue
jedoch entdeckt, dass Geschmack und Geruch des kräftigen Tabaks die besten Auslöser dafür waren, sie in ihre Vergangenheit zurückzuversetzen. Manchmal dachte sie, die Zigarettenmarke sei das Einzige, was sie mit ihrer Mutter gemeinsam hatte. Sie ließ den Rauch aus dem offenen Mund austreten und sah dem blauen Wölkchen nach, das sich in der kalten Morgenluft auflöste. Selbst nach all den Jahren, in denen sie nicht geraucht hatte, fühlte sich die Zigarette zwischen ihren Fingern völlig vertraut an. Jay ließ sie herunterbrennen und hielt sie nah genug am Gesicht, dass der Rauch seine magische Wirkung tun konnte. Jetzt konnte sie die Intensität jener Emotionen und die Ursprünglichkeit des Erlebens nachempfinden, die sie auf die Seite bannen wollte.
Nach dem Sommer veränderte sich die Situation. Nicht zwischen den Newsams und mir, sondern zwischen mir und dem Rest der Welt. Der Grund? Meine neue Zimmernachbarin im College. Sie studierte im ersten Jahr moderne Sprachen. Louise Proctor.
Ich stolperte gerade mit einem schweren Karton den Korridor entlang, als Louise aus ihrem Zimmer kam. In dem schmalen Korridor versuchten wir, irgendwie aneinander vorbeizukommen; dabei trafen sich unsere Blicke, und ich spürte zum ersten Mal den Schock und den Funken einer spontanen Anziehung.
Ein Moment des reinen Schreckens.
Irgendwie schaffte ich es, mich an Louise vorbeizuschieben, und taumelte in mein eigenes Zimmer. Ich schleuderte den Karton praktisch zu Boden und ließ mich auf das Bett fallen, während das Blut in meinen Ohren hämmerte. Meine Sinne waren bis zum Äußersten gereizt. Ich spürte die Fäden der Tagesdecke unter meinen Fingern und sah die groben Körnchen im getrockneten Gips, wo von Reißzwecken kleine Löcher zurückgeblieben waren. Ich roch den Staub, die Zigarettenkippen in meinem Aschenbecher und die Orangen-Zitronen-Duftmischung in einer Schale, die Corinna und ihre Mädchen am Morgen vorbeigebracht hatten. Es war ein Begrüßungsgeschenk nach einer zweiwöchigen Pauschalreise der Newsams nach Griechenland. Und ich hörte eine Stimme im Zimmer nebenan rufen: »Louise?«
Ich wankte zum Fenster und stieß es auf. Am nächsten Fenster stand eine Frau mittleren Alters mit welligem, schon etwas grauem Haar, das zu einer langen Bobfrisur geschnitten war. Sie lehnte sich hinaus und winkte dem Mädchen, mit dem ich ein paar Augenblicke zuvor fast zusammengestoßen war. Louise sah auf und erblickte uns beide ungefähr im gleichen Moment, in dem ihre Mutter mich wahrnahm. »Hallo!«, grüßte mich Mrs. Proctor fröhlich. »Ich bin dabei, meiner Tochter beim Einzug zu helfen!« Dann drehte sie sich um und schaute wieder hinunter. »Louise, bring doch als Nächstes den grauen Koffer, Schatz.«
Louise nickte und öffnete den Kofferraum eines roten Golfs. Ihr Kopf mit dem glänzenden, dunklen Haar verschwand einen Moment, dann kam sie mit dem Koffer wieder zum Vorschein. Mir wurde plötzlich klar, dass ich aussehen musste wie eine Vollidiotin, und zog mich in mein
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