Alle Robotergeschichten
er sechs Monate älter war. Sein Gesicht war voll von mühsam unterdrückter Erregung, die sich am deutlichsten im nervösen Flattern seiner Augenlider ausdrückte. »He, Nickie, laß mich ‘rein. Ich habe eine Idee.«
Er blickte hastig umher, als rechnete er mit der Anwesenheit von Lauschern, aber der Vorgarten war leer.
»Augenblick. Ich mach dir auf.«
Der Märchenerzähler spann seinen Faden weiter, ungeachtet der Tatsache, daß ihm sein Zuhörer verlorengegangen war. Als Paul das Zimmer betrat, sagte der Märchenerzähler gerade:
»… darauf knurrte der Löwe: ›Wenn du mir das Ei des Vogels bringst, der alle zehn Jahre einmal über den Ebenholzberg fliegt, werde ich …‹«
Paul sagte: »Ist das ein Märchenerzähler, dem du da zuhörst? Ich wußte gar nicht, daß du einen hast.«
Niccolo errötete. »Nur ein altes Ding, das ich als kleiner Junge hatte«, entschuldigte er sich. »Es taugt nicht viel, ich weiß.« Damit der andere ihm auch glaubte, versetzte er dem Märchenerzähler einen Fußtritt. Das zerkratzte und schon etwas verblichene Plastikgehäuse bekam einen feinen Sprung.
Der Märchenerzähler reagierte mit einem Schluckauf, dann fuhr er fort: »… ein ganzes Jahr und einen Tag lang, bis die eisernen Schuhe abgetragen waren. Dann blieb die Prinzessin am Straßenrand stehen …«
»Mensch, das ist aber ein altes Modell«, sagte Paul mit einem kritischen Blick.
Niccolo zuckte bei der verächtlichen Bemerkung des anderen zusammen. Für einen Moment bedauerte er, Paul hereingelassen zu haben. Wenigstens hätte er den Märchenerzähler vorher noch schnell in den Keller zurücktragen sollen, wo er seinen Ruheplatz hatte. Schließlich hatte er ihn nur aus Verzweiflung über den traurigen Tag und über eine fruchtlose Diskussion mit seinem Vater wieder zum Leben erweckt.
In Pauls Gegenwart fühlte sich Niccolo ohnehin unterlegen, denn Paul war ein begabter Junge und nahm in der Schule an Sonderkursen teil, und alle sagten, daß er es eines Tages zum Elektroingenieur bringen würde.
Nicht daß Niccolo ein schlechter Schüler gewesen wäre. Er brachte es in Logik, Elektrotechnik und Physik, welches die Hauptfächer der Grundschulausbildung waren, auf befriedigende Noten, und eines Tages würde er wie jeder andere vor irgendeiner Schalttafel sitzen und Maschinen überwachen.
Aber Paul wußte schon jetzt viel über mysteriöse Dinge wie Mathematik, Magnetspeicherung, Vielkreissysteme und Programmierung. Niccolo versuchte nicht einmal, ihn zu verstehen, wenn Paul davon anfing.
Paul hörte dem Märchenerzähler ein paar Minuten lang zu, dann fragte er: »Benützt du das Ding oft?«
»Nein!« sagte Niccolo beleidigt. »Ich hatte es immer im Keller und habe es erst heute herausgeholt …« Ihm fiel keine passende Entschuldigung ein, also schloß er: »Ich habe es eben wieder hervorgekramt.«
»Erzählt er immer nur von Holzfällern und Prinzessinnen und sprechenden Tieren?«
»Papa sagt, wir könnten uns keinen neuen leisten«, antwortete Niccolo ausweichend. »Und da dachte ich eben, ich könnte diesen alten noch einmal probieren. Aber es hat keinen Zweck.«
Paul schaltete den Märchenerzähler aus und drückte auf eine breite Taste, was eine Umorientierung und Neuzusammenstellung der gespeicherten Wörter, Personen, Handlungsabläufe und Pointen zur Folge hatte. Dann schaltete er ihn wieder ein.
Der Märchenerzähler begann: »Es war einmal ein kleiner Junge namens Willikins, dessen Mutter gestorben war und der mit seinem Stiefvater und einem Stiefbruder lebte. Obwohl sein Stiefvater ein sehr reicher Mann war, neidete er dem armen Willikins sogar das Bett, worin er schlief. So mußte Willikins im Pferdestall auf einem Strohhaufen schlafen …«
»Pferde!« rief Paul.
»Das ist eine Art von Tieren, glaube ich«, sagte Niccolo.
»Ich weiß! Aber stell dir doch vor: Geschichten über Pferde!«
»Er redet die ganze Zeit von Pferden«, mußte Niccolo zugeben. »Außerdem kommen auch sehr oft Dinger vor, die Kühe heißen. Man kann sie melken, aber der Märchenerzähler sagt nicht, wie.«
»Warum baust du ihn dann nicht um?«
»Ich kann es ja nicht.«
Der Märchenerzähler sagte: »Oft wünschte sich Willikins, daß er reich und mächtig wäre, damit er seinem Stiefvater und Stiefbruder zeigen könnte, was es bedeutete, zu einem kleinen Jungen grausam zu sein. Und so machte er sich eines Tages auf, um in die Welt hinauszuziehen und sein Glück zu suchen.«
Paul hatte nicht zugehört. »Es
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