Alle Singen Im Chor
anderen wollte mit mir ausgehen, genau wie damals auf der Polizeischule, und da ich jedes Mal ablehnte, machten wilde Spekulationen die Runde. «Sieht ja ganz gut aus, die Kleine, aber sie hat nicht mal einen Freund. Die ist bestimmt lesbisch, deswegen hat sie sich ja auch einen Männerberuf ausgesucht.»
Weshalb hätte ich meinen Kollegen über mein Liebesleben Bericht erstatten sollen? Ich hatte nämlich eins, manchmal, aber die Zeit rannte mir davon, und die Männer machten meistens einen Rückzug, wenn sie erfuhren, dass ich Polizistin war. So beschäftigt, wie ich in letzter Zeit war, hatte ich fast vergessen, dass es so etwas wie Sex überhaupt gab. Ich wollte meine Arbeit gut machen, und beim Gewaltdezernat hatte ich eine Menge zu lernen. Als Pete damals mit mir Schluss gemacht hatte, war ich überzeugt gewesen, mich nie mehr zu verlieben. Ein Jahr später war Harri aufgetaucht, ein passionierter Pflanzen- und Vogelforscher, dessen faszinierendste Eigenschaft leider darin bestand, alle Pflanzen- und Vogelarten zu kennen und sie mir beibringen zu wollen. Davon abgesehen, hatte Harri mir nichts entgegenzusetzen, er war viel zu brav, sanft und empathisch, und ich behandelte ihn schäbig. Zum Glück hatte er irgendwann genug davon, sich von mir herumkommandieren zu lassen.
Nein, ich wollte von niemandem abhängig sein. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, meine Gewohnheiten mit irgendwem zu teilen. Ich wollte frühstücken, ohne dass jemand mir die Zeitung wegnahm oder mich ansprach, bevor ich meinen Kaffee getrunken hatte. Ich wollte mir Schmachtfilme im Fernsehen anschauen, ohne dass jemand hämische Kommentare abgab oder sich wunderte, wenn das Happy End mich zu Tränen rührte. Ich wollte um zwei Uhr nachts Schokolade essend und Whisky trinkend in der Badewanne liegen, wenn mir danach war. Ab und zu hätte ich bei meinen düsteren Monologen allerdings ganz gern einen Zuhörer gehabt, weshalb ich mit dem Gedanken spielte, mir eine Katze zuzulegen. Wir würden uns verhältnismäßig selten in die Quere kommen. Eine Katze zu halten, ließ sich vielleicht trotz meiner unregelmäßigen Arbeitszeiten einrichten. Ein Mann würde mehr Umstände machen. Sex war zwar ab und zu ganz angenehm, aber ich war schon eine ganze Weile ohne ausgekommen. Vielleicht war meine Libido nicht so ausgeprägt.
Völlig in Gedanken verloren, war ich mittlerweile in der Ratakatu gelandet, wo mich ein Bekannter von der Polizeischule, der jetzt bei der Sicherheitspolizei arbeitete, durch seinen lauten Gruß aus meinen Gedanken riss. Zu meinem Verdruss stellte ich fest, dass ich vorwiegend über mich selbst nachgedacht hatte statt über Jukka. Möglicherweise würde ich in seiner Wohnung eine Antwort auf die Frage finden, warum er sterben musste. Eigentlich war es erschreckend, wie ein Mensch zum Allgemeinbesitz wurde, wenn er einem Mord zum Opfer fiel. Zuerst schnitt man seinen Körper auf, untersuchte den Zustand seiner inneren Organe, stellte die Zusammensetzung seiner letzten Mahlzeit fest. Dann durchwühlte man sein ganzes Leben, überprüfte seine Wohnung, seine Beziehungen, seine Finanzen, seine Freunde. Schamlos drang man in das Privatleben des Opfers und der Tatverdächtigen ein. Und ich spähte neugierig in das Leben anderer Menschen und konnte doch nur einen Teil der Zeichen entziffern, die ich dort sah.
Sechs
Und jeder trägt im Herzen das Uhrwerk seiner Zeit
Als ich am Dienstagmorgen zur Arbeit kam, lag der Durchsuchungsbefehl auf meinem Tisch, neben der Bestätigung, dass sich weder Jaana noch Franz Schön im Lauf der letzten Woche in Finnland aufgehalten hatte. Koivu hatte sich die Telefonnummern vorgenommen, die mir Heikki Peltonen gegeben hatte. Die Segelfreunde hatten seine Angaben über den Kurs seiner Yacht bestätigt. Auch der Pächter der Servicestation in Barösund erinnerte sich gut an ihn, denn Heikki Peltonen hatte bei ihm eine Wurstpackung umgetauscht, die seiner Meinung nach verdorben war. Mir war über Nacht kein vernünftiger Grund eingefallen, weshalb die Peltonens ihren Sohn ermordet haben sollten, also konnte ich sie wohl definitiv ausschließen. Zwar bestand immer noch die entfernte Möglichkeit, dass der Täter ein Unbekannter war, aber fürs Erste blieb mir nur das Septett der Chorsänger, aus denen ich die Wahrheit herausholen musste.
Ich rief im Labor an, um mich nach dem Ergebnis der Blutanalyse zu erkundigen, und der Chemiker verarschte mich gründlich.
«Hör
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