Alle Singen Im Chor
Stück des schmalen Knöchels zu sehen. Seine bis in den Nacken reichenden Haare hatte er mit einem schwarzen Zopfband zusammengebunden.
Toivonen saß an der Orgel. Ich sah, wie seine Hände zitterten, und merkte, dass ich um die Chormitglieder fürchtete, um Jukkas Mutter, um mich selbst. Ich fürchtete die Qual, die hinter all den geröteten Augen lauerte, fürchtete, dass sie außer Kontrolle geriet, dass der Gesang sich in Heulen und Wehklagen verwandelte. Ich hatte Angst, dass jemand laut «Wer?» und «Warum?» rief – Fragen, auf die ich noch keine Antwort wusste. Vielleicht hatte es Jukka von uns allen am leichtesten. Für ihn war alles vorbei.
Toivonen schlug die ersten Akkorde des Gemeindelieds an. Ich hatte immer gern Kirchenlieder gesungen, also nahm ich das Gesangbuch zur Hand und stimmte ein. Lied 613, Strophe eins und zwei. Schon bei der ersten Strophe wunderte ich mich über die Wahl dieses Liedes, und die Worte der zweiten Strophe schienen die Situation allzu genau zu treffen: Nicht hoher Mut noch Mächtigkeit, nicht Jugend kann da raten, nicht Klugheit und Geschicklichkeit uns von dem Grabe retten. Für einen jeden Menschen kommt das Ende seiner Zeit. Doch wann und wie es jedem frommt, der Herr allein entscheid’t. Ich merkte, dass meine Stimme zitterte. Wahrscheinlich nur, weil ich so lange nicht mehr gesungen hatte.
Nach dem Gemeindelied war der Chor an der Reihe. Ich erkannte das Lacrimoso aus Mozarts Requiem. Die Melodie war qualvoll und roh, auch in den Worten lag keine Hoffnung, sondern trotziges Aufbegehren: Tränenreich ist jener Tag, an dem ersteht aus dem Staube, gerichtet zu werden, der Mensch. War Jukka ein schlechter Mensch gewesen? Gleichgültig und mit Menschen spielend, das ja, aber schlecht? Ich konnte die Augen nicht vom Chor lösen, ich hörte Jyris flötenden Tenor und Mirjas herrlichen, dunklen Alt heraus. Die Stimme war wohl das Schönste an ihr. Die Bässe hielten die dräuende Unterstimme, die Soprane stiegen immer höher, keine Stimme versagte. Tuulias bleiches Gesicht bekam beim Singen ein wenig Farbe.
Die Gebete und die Lesung zogen an mir vorbei. Der Pfarrer, ein junger Mann, der so ernst dreinblickte, wie es dem Anlass angemessen war, richtete seine Worte direkt an Jukkas Eltern. Piia holte offenbar ein Taschentuch hervor. Ich musste möglichst bald mit ihr sprechen. Sirkku klammerte sich wieder an Timos Hand. Für diese beiden war mir noch kein einleuchtendes Mordmotiv eingefallen. Ich konnte mir allerdings vorstellen, dass Timo wütend auf Jukka losgegangen wäre, wenn der sich über Sirkku lustig machte, und dass er dann vielleicht fester zugeschlagen hätte, als er eigentlich wollte. Timo sah aus wie einer von den Männern, die der Ansicht sind, es sei die Sache des Mannes, sich an einem anderen Mann zu rächen, wenn seine Frau beleidigt wurde. Mich hatte noch niemand auf diese Weise verteidigt. Nicht, dass ich mir das etwa gewünscht hätte. Im Gegenteil, einmal habe ich in der Schlange vor einer Würstchenbude einen besoffenen Idioten geschlagen, weil er Harri, den Vogelmann, als langhaarigen Schwulen bezeichnet hatte.
Aber hätten Timo und Jukka einen Grund gehabt, sich heimlich des Nachts zu treffen? Und wenn das T in Jukkas Kalender nun Timo bedeutete? Und wenn sich die Gerätschaften zum Schwarzbrennen bei einem der beiden Liebenden befanden … Der Pfarrer beendete seine Ansprache, Toivonen verließ seinen Platz an der Orgel und stellte sich vor dem Chor in Positur, die Sänger standen auf. Hain der Toten, nächtiger Hain … Offensichtlich hatten sie die Fassung für Männerchor gewählt, weil die Frauen einfach nicht imstande waren zu singen. Es waren nur sechs Männer, die extremen Stimmlagen schienen Antti und Jyri jeweils allein zu tragen.
Die Tränenflut begann bei Jukkas Mutter, setzte sich dann wellenartig durch die nächsten Reihen fort, erfasste Verwandte und Bekannte, schwappte auf die Frauen im Chor über. Tuulia versuchte gar nicht erst, die wie Sturzbäche fließenden Tränen zurückzuhalten. Ich wäre am liebsten zu ihr gegangen, um sie zu trösten. Piia verbarg ihr Gesicht hinter ihrem schwarzen Haar, ein mir unbekanntes Mädchen schnaubte sich so laut die Nase, dass ich es bis auf die Empore hörte. Nur Mirja saß ruhig und ausdruckslos da, als ob die Trauer, die sie von allen Seiten umgab, sie überhaupt nicht berührte. Konnte diese Teilnahmslosigkeit gespielt sein? Oder hatte Mirja Jukka so gehasst, dass sie sich über seinen Tod
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