Alle Singen Im Chor
freute? Warum?
Ich bewunderte die Selbstbeherrschung der Sänger. Männern war es in unserer Gesellschaft immer noch nicht erlaubt, vor Trauer hysterisch zu werden. Aber wie brachten sie es fertig zu singen, während alle um sie herum weinten und Jukkas Mutter trotz aller Beruhigungsmittel laut heulte? Jyri sang den Part des ersten Tenors wohlklingend und weich. Seine grelle Sprechstimme wurde beim Singen körperlos, verwandelte sich in ein Instrument. Die Zwischenlagen klangen ein wenig rau, und das Gesicht eines Bassisten zuckte verdächtig. Antti sang seinen unglaublich tiefen Part an Jukkas Mutter gewandt, als wollte er ihr mit seinem Blick die Gewissheit vermitteln, dass die Worte von Aleksis Kivi zutrafen. Fern von allem Hasse, Streite … Als das Lied zu Ende war, schmeckte ich Blut. Ich hatte meine sonnenverbrannte Unterlippe aufgebissen.
Zum Glück holte mich die Predigt in die Realität zurück. Vor allem brachte sie mich auf. Der Pfarrer krümmte und wand sich, als er auf die Umstände von Jukkas Tod einging. Sicher war es nicht leicht, darüber zu sprechen, da der Fall noch nicht aufgeklärt war und der Mörder wahrscheinlich in der Kirche saß. Nach den Worten des Pfarrers hatte Gott in seiner Weisheit beschlossen, Jukka entschlafen zu lassen. Ich hasste diese Euphemismen rund um den Tod. Wenn der Pfarrer Jukkas Leiche gesehen hätte, wären ihm diese Worte gewiss nicht in den Sinn gekommen. Von friedlichem Schlaf konnte wahrhaftig nicht die Rede sein.
Wieder erhob sich der Chor. Stromab treibet mein Boot. Der Einsatz der Soprane klang ein wenig zittrig, Piia wirkte furchtbar gequält. Dieses Lied hatten sie in Vuosaari sorglos eingeübt. Wie anders es für sie jetzt klingen musste. Alles muss vergehn, dröhnten die Bässe. Strahlt einstmals neuer Frühling und neues Morgenrot, hieß es bald darauf hoffnungsvoll. Ist es Selbstbetrug nur?, zweifelten die Bässe. Für Jukka würde es keinen Frühling mehr geben.
Dann wurden die Kränze niedergelegt. Meine Wut loderte hell auf, als ich die vielen prächtigen Blumen betrachtete, die dem, der im Sarg lag, keine Freude mehr bereiteten. Jukkas Mutter schaffte es nur mit Mühe und schwer auf ihren Mann gestützt, kurz am Sarg zu stehen. Es folgten die Verwandten, dann Jukkas Kollegen. Jukkas Sekretärin legte den Kranz nieder, und Marja Mäki verlas mit fester Stimme einen nichts sagenden Gedenkspruch.
Zum Schluss legten Toivonen und der Bassist mit dem zuckenden Gesicht den Kranz des Chors nieder. Interessiert stellte ich fest, dass keiner von Jukkas Freunden, Jyri, Antti oder Tuulia, mit dieser Aufgabe betraut worden war, auch nicht Timo, der Vorsitzende des Chors.
Soweit ich sah, hatten fast alle Trauergäste Blumen niedergelegt, aber keines der Gebinde kam von einer der in Jukkas Kalender genannten Frauen oder von einem Mann, der der geheimnisvolle ÄM sein konnte. Allerdings hatte Heikki Peltonen ja gesagt, dass die Familie eine Beerdigung im kleinen Kreis wünschte. Es hatte nicht einmal eine Todesanzeige in der Zeitung gestanden.
Ich war wohl vergebens gekommen.
Vergeblich war auch meine Hoffnung gewesen, der Mörder würde bei der Trauerfeier zusammenbrechen. Ich wurde noch zorniger, als alle meine Verdächtigen mit frommer Miene das Vaterunser sangen. Dein Wille geschehe, sollte der Mörder wirklich so denken? Die christliche Ethik forderte, dass der Mörder gefasst wurde. Auge um Auge und Zahn um Zahn – um Himmels willen, ich wollte Jukkas Mörder ja wirklich fassen! Wollte ich Rache üben, erfolgreich sein, der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen? Aber war ich auch fähig, den ersten Stein zu werfen?
In meiner ersten Zeit im Polizeidienst hatte ich mich gefühlsmäßig engagiert. Ich hatte Mitleid mit den Opfern gehabt, aber auch die Täter verstehen wollen. Kehrte ich jetzt zu dieser Haltung zurück? Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht schon wieder meine eigenen Moralvorstellungen an jedem neuen Fall messen, über die Verwerflichkeit der Taten und angemessene Strafen nachdenken. Ich hatte mir eingebildet, der Gerechtigkeit besser dienen zu können, indem ich von der jagenden zur strafenden Seite überwechselte. Polizisten mussten Halbwüchsige festnehmen, die die Betonwände eines Amtsgebäudes mit Graffiti beschmierten, oder Studenten, die aus Neugier Haschisch rauchten, während die Richter gerechte Strafen verhängen konnten. Aber war ich überhaupt fähig, eine solche Verantwortung zu übernehmen?
Toivonen setzte sich wieder an die
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