Alle Sorgen sind vergessen
Studenten in der dritten Reihe, der offenbar von den Feinheiten der Strafprozessordnung nicht genug bekam.
„Allison! Allison?“
„Mmm?“ Jemand rief ihren Namen. Langsam erwachte sie. Es fiel ihr ungeheuer schwer, die Augen zu öffnen.
„Bist du okay?“
Jorge beugte sich über sie, mit besorgt gerunzelter Stirn, eine Hand auf ihrem Arm. Allison wurde bewusst, dass er sie behutsam geschüttelt hatte, um sie zu wecken. Verwirrt blickte sie sich um und sah, dass außer ihnen beiden niemand mehr im Hörsaal war.
Ruckartig setzte sie sich auf. „Wo sind denn alle?“
„Die Vorlesung ist vorbei. Die anderen sind gegangen“, erwiderte Jorge und hob den Stift auf, der zu Boden gefallen war, als sie sich abrupt aufgerichtet hatte.
„Ich bin eingeschlafen.“
Er lächelte, sein Blick wärmte sie. „Ja, das bist du. War meine Vorlesung so langweilig?“
Er reichte ihr Notizblock und Stift, und sie verstaute beides in ihrer Tasche.
„Danke. Nein, die Vorlesung war sehr gut. Ich bin nur schrecklich müde. Ich habe zu wenig Schlaf bekommen.“ Sie holte tief Luft, knöpfte mühsam ihren Mantel zu und wich seinem forschenden Blick aus. „Ich sollte jetzt gehen.“
Jorge wich bis in den Mittelgang zurück, half ihr beim Aufstehen, ließ sie jedoch sofort wieder los, als sie den Ausgang ansteuerte.
Dort angekommen, griff er um sie herum und schob die schwere Tür auf. Dabei kam er ihr so nahe, dass sein Duft ihre Sinne belebte und Erinnerungen an die gemeinsame Nacht weckte. Der Wunsch, sich an ihn zu schmiegen und sich darin zu verlieren, wurde fast übermächtig. Panisch zuckte Allison zurück und hastete in die Dunkelheit hinaus. Der eisige Wind, der den Regen über den Vorplatz peitschte, verschlug ihr den Atem.
„Du zitterst ja“, meinte Jorge, während er seinen aufgespannten Schirm über sie hielt und sie mit seinem Körper vor dem Wind schützte. „Wo steht dein Wagen?“
„Ich habe keinen. Ich nehme mir an der Ecke ein Taxi.“
Allison zeigte dorthin, wo der Asphalt im Schein der Straßenlaterne glänzte, und stellte bestürzt fest, dass nirgendwo ein Taxi in Sicht war.
Jorge legte den Arm um ihre Schultern, drückte sie an sich und führte sie zum Parkdeck. Allison war zu müde, um zu protestieren, als er mit ihr vor einem grünen Jaguar stehen blieb. Er drückte auf die Fernbedienung und öffnete die Beifahrertür.
„Was tust du?“ fragte sie.
„Ich bringe dich nach Hause“, erwiderte er, ohne den Arm von ihren Schultern zu nehmen.
Allison wusste, dass sie ablehnen sollte. Je mehr Zeit sie mit ihm verbrachte, desto größer wurde die Gefahr, dass sie sich verriet und er so von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Aber sie war so unendlich müde. An der Ecke wartete noch immer kein Taxi, und ein Windstoß ließ sie frösteln.
„Wenn du unbedingt willst“, sagte sie.
„Gut.“ Er klang zufrieden.
Jorge half ihr beim Einsteigen. Im Wagen roch es nach Leder und nach seinem Rasierwasser. Dann fiel die Fahrertür ins Schloss, und er saß neben ihr.
„Gleich wird es warm“, kündigte er an, während er den Motor anließ, und drehte sich zu Allison, um sie anzuschnallen. Eine erregende Sekunde lang berührte sein Oberkörper ihren, dann hob er den Kopf, das Gesicht dicht vor ihrem, sein Blick nicht zu entschlüsseln.
Sie sehnte sich danach, ihn einfach an sich zu ziehen, doch dann wich er zurück, und sie empfand es geradezu wie einen körperlicher Entzug.
Jorge legte den Gang ein, schaute kurz über die Schulter und fädelte sich zügig in den spärlich fließenden Verkehr ein. Allison fühlte seinen Blick wie ein flüchtiges Streicheln, bevor er auf einen Knopf drückte und warme Luft ihre kalten Beine umströmte.
Sie seufzte dankbar.
„Besser?“
„Sehr.“
Er schaltete das Radio ein. Allison lauschte dem sanften Rock, legte den Kopf zurück und schaute mit halb geschlossenen Augen auf die vorbeihuschenden Straßenlaternen. Der Regen trommelte einschläfernd aufs Wagendach, und sie ließ die Lider nach unten fallen.
„Hey, schläfst du mir etwa schon wieder ein?“ Jorges Stimme war halb belustigt, halb besorgt. „Geht es dir gut? Soll ich vielleicht einen Arzt rufen?“
Allison lächelte schläfrig und kuschelte sich in den weichen Ledersitz. „Nein, es geht mir gut. In meinem Buch steht, dass es völlig normal ist, im ersten Drittel dauernd müde zu sein. Das gehört eben dazu, wenn man ein wenig schwanger ist.“
Kaum war ihr das Wort „schwanger“ über die Lippen
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