Alle Tage: Roman (German Edition)
enttäuscht, kannst du mir verzeihen?
Der Junge trank aus einem großen, roten Kristallglas. Das Licht der Küchenlampe in den geschliffenen Flächen und in seinem Glasauge darüber. Er stellte das Glas hin, nahm Löffel und Gabel wieder zur Hand.
Natürlich kann ich das.
Ja, sagte Omar. Wir haben uns gut unterhalten.
Anschließend lieh sich Abel einen Stadtplan und suchte den Weg zu der neuen Wohnung zu Fuß. Keine zwanzig Minuten entfernt. Abenddämmerung, die Klapsmühle hatte Schließtag, leerer Gehsteig, Ziegelmauer, Wind und ein seltsames Quietschen, das er zunächst nicht zuordnen konnte. Sein Haus, das vorletzte vor dem Ende der Sackgasse, erkannte er an den beiden Taschen, die vor der Tür auf dem Gehsteig standen. Jemand hatte sie, zusammen mit der Schaumstoffmatratze, die er sich von Andre geliehen hatte, zu der Adresse gebracht, die er dem Taxifahrer gegeben hatte. Später, als er fünf Etagen höher auf seiner Plattform stand, sah er auch, woher die quietschenden Echos kamen: Waggons, rangierend.
So öffnen sich neue Perspektiven. Er stand auf seiner Plattform, hüfthoch im eisernen Käfig, der Wind drängte ihn fast bis an die Hauswand zurück, hinter ihm ein bizarr geschnittener staubiger Raum, mit nichts als einem Schrank und einem kalkverkrusteten Radiogerät in der sogenannten Küche, das sogenannte Bad in Wahrheit nur zwei Emailleschüsseln mit altem, rostfarbenem Wasser auf dem Grund, und in der Mitte , hingestreckt, eine alte Matratze und zwei schwarze Reisetaschen, die er schon verloren geglaubt hatte. Er kniff die Augen zusammen: Die kugelförmigen, silbernen Container, die auf den Schienen unten vorbeizogen, sandten letzte Lichtreflexe aus.
Dazwischen
Krisen
Keine sechs Monate und sie werden verheiratet sein. So außergewöhnlich ist das nicht. Im Moment spricht allerdings noch nichts dafür. Er ist wieder da, aufgetaucht aus obskuren Zeiten, und dann gleich auf die Sekunde genau, ein punktgelandeter Held: Hält Händchen, öffnet Maisdosen (oder: eine, eine Maisdose), wohnt mit Ausblick und benimmt sich überhaupt so erwachsen und normal wie vielleicht noch nie. Ruft nach einer angemessenen Zeit, wie es sich gehört, an, um sich nach dem Zustand zu erkundigen. Oh, sagte Mercedes abwesend. Danke. Sie hatte wieder einmal andere Sorgen.
Der Zeitpunkt, an dem es nötig werden könnte, in Tränen auszubrechen, scheint nicht mehr allzu fern zu sein, dachte sie, und zwar wortwörtlich, während man sie vom Asphalt auf die Trage hob, und der Schmerz sie vom Knöchel bis unter die Schädeldecke durchfuhr. Oder in Ohnmacht zu fallen. Aber sie fiel nicht in Ohnmacht und brach auch nicht in Tränen aus, dafür war sie erst viel zu perplex, und später sorgten die Analgetika dafür, dass sie die etwas dumpfe Fassung wahrte. Sie beobachtete still das Wirken des Morphiums in ihrem Körper. Kurz bevor der Pegel auf Knöcheltiefe gesunken wäre, sagte sie Bescheid und bekam einen neuen Schuss. Das ist dieselbe Gruppe wie Heroin. Als wärst du außerhalb deines Körpers. Die nächsten Tage und Wochen immer ein bisschen neben sich, oder man weiß nicht, wo. Ihr Umfeld registrierte eine gewisse, nennen wir es: Veränderung ihrer Persönlichkeit. Mal ertrug sie alles (Fernsehprogramm, Baustelle direkt vor dem mit einer Plane verhängten Krankenzimmerfenster) mit einer an Apathie grenzenden Geduld, dann wieder war sie, und kaschierte es kaum, voller Unmut (Direktor zu Besuch, sie nickt, jaja, bald gesund, aber mit den Händen wedelt sie schon, pack die Blumen da hin und verzieh dich), hinzu kamen die zeitweilige Reduktion ihres Wortschatzes (Was ist das für ein unglaublicher Mist/Müll/Scheiß!), nie gekannte körperliche Ausbrüche (versucht mit einem Buch den Abfalleimer unter dem Waschbecken zu treffen) sowie knappe, kategorische Befehle, Neins und Jas, und wenn sie etwas wiederholen muss, dann tut sie es das zweite Mal brüllend, kurz: eine handfeste postoperative Depression.
Was ist los? Was ist nur los hier? Als sie hinter der Plane auftauchte, war die Stadt wie umgekrempelt. Gibt es eigentlich eine einzige Ecke in dieser Stadt, an der nicht mit Höllenlärm irgendwelche Gruben ausgehoben werden? Die netten Bäume in ihrer Straße hatten das Laub verloren – Wohin ist der Herbst verschwunden? Wieso muss hier der Sommer neuerdings nahtlos in den Winter übergehen? –, standen da, klappernde Reisigbesen. Ohne Blätter konnte man sehen, wie rabiat sie zurechtgestutzt worden sind, damit sie
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