Alle Tage: Roman (German Edition)
nicht zu hoch, zu breit, zu rund für diese nette Straße werden. Warum musste mir auch der Schleier von den Augen fallen?
Wieder zu Hause saß sie fast nur auf dem Sofa, den Fuß auf die marmorne Tischplatte vor sich gelegt. Der Tisch hatte auf der Straße gestanden, als sie einzogen, quasi als Begrüßung, vielleicht hatte ihn jemand absichtlich in die Nähe ihrer Möbel auf den Gehsteig gestellt, ein Angebot. Den auch? Fragten die Möbelpacker. Sie sah sich um – niemand zu sehen – und nickte schließlich. Die Marmorplatte war hell, mandelförmig, durch die längste Achse zog sich ein schwarzer Riss. Sie schaute sich mehrere Wochen lang unbewegt diesen Riss an. Ihr kleines aber stabiles Netz aus Familie und Freunden war dafür quasi permanent am Kommen und Gehen. Ich brauche, ganz im Gegensatz zu vielen, nie alleine zu sein, dafür sollte ich Liebe oder zumindest Dankbarkeit empfinden, im Moment allerdings ging ihr alles auf die Nerven. Erik, wenn er laut wie ein D-Zug einfährt, um zu verkünden:
Nie gab es weniger Grund, den Mut sinken zu lassen! Wir strotzen vor Kraft! Am Ende der neunziger Jahre prosperieren wir wie noch nie zuvor! Wahrscheinlich wird das nicht länger als bis zu drei Jahre dauern, dann wird die Blase platzen, und es wird, Zitat, ein Blutbad geben , aber bis dahin! Streit gibt es höchstens darüber, ob wir B. bombardieren sollten oder nicht. Jeder, der etwas auf sich hält, ist dafür, wie steht’s mit dir?
Weiß nicht, sagte Mercedes. Keine Ahnung. Mein Leben ist gerade im Begriff zu zersplittern wie ein willkürlich angefahrener Knöchel.
Stimmt es, dass du gekündigt hast?
Ja. Das heißt: nein. Aber ich werde es, sobald ich wieder gesund geschrieben sein werde.
Falls es jemals dazu kommt. Ich glaube, sagte Miriam, als man sagte, du sollst den Knöchel hochlegen, meinte man nicht: für den Rest deines Lebens.
Im Ernst, sagte Erik, uns geht es im Moment so gut, ich überlege ernsthaft, das bewährte Prinzip der Ausbeutung immer neuer Praktikanten aufzugeben zugunsten einer Lektoratsstelle, es kostet dich nur ein Wort.
Du bist ein Schatz, sagte Mercedes (Erik wurde rot) und blieb sitzen.
Miriam: Ich meine es ernst, wenn du nicht anfängst, den Fuß zu belasten, wirst du vielleicht nie wieder richtig gehen können.
Wenn ich hier sitzen bleibe, spielt das ja wohl keine Rolle.
Hier: der zu erwartende mütterliche Vortrag über das verantwortungsvolle Handeln Erwachsener. Wie alt bist du? Zwölf?
Mein ganzes Leben lang, immerhin dreiunddreißig Jahre, war ich ein braver, fleißiger, optimistischer Mensch. Jetzt, da mein Leben zersplittert ist wie ein…
Das hast du schon gesagt.
Na und? Darf ich mich nicht mal wiederholen? Darf ich nicht hier sitzen bleiben, bis ich mich auskuriert habe? Ist mir (Miriam winkte ab und nahm ihre Handtasche) das nicht erlaubt?
Hier klingelte das Telefon.
Ja! schrie Mercedes in den Hörer. Ach, Sie sind es …
Omar kam aus seinem Zimmer und blieb vor ihr stehen.
Danke, sagte Mercedes am Telefon. Es geht schon wieder. Nett, dass Sie anrufen. Sie hätte sich schon längst für die Hilfe bedanken wollen, aber wir hatten keine Nummer von Ihnen. Würde er sie diesmal hinterlassen? Sie würde sich gerne revanchieren, irgendwann, wenn es wieder möglich sein wird, ein Abendessen vielleicht.
Wann kommt er? fragte Omar, nachdem sie aufgelegt hatte.
Was soll ich helfen? fragte Miriam aus dem Flur.
Danke, gar nichts, sagte Mercedes.
Wie wär’s nächsten Donnerstag, fragte Omar.
Hm, sagte Mercedes.
Um die Wahrheit zu sagen, wollte sie nur höflich sein. Im Moment habe ich keine Luft, Korrektur: Lust auf keinen Menschen.
Wann? fragte Omar.
Was wann?
Wann wirst du soweit sein?
Stand da, das Weiße seines Glasauges war ähnlich geädert und schimmerte ähnlich wie die Marmorplatte des Tisches. Er ist mit einem Tumor im Auge geboren, da schämte ich mich dann doch ein wenig.
Bald, sagte sie, bald.
Einige Tage später hörte Omar schon im Hausflur das Klopfen ihrer Krücken auf den Dielen.
Was ist passiert?
Rate mal, wer heute zum Essen kommt.
Wer?
Es gab wieder Nudeln, diesmal von Mercedes zubereitet, scharf. Was ist besser?
Beides ist gut.
Ja, aber was ist besser ?
Der Junge gab sich weiter streng, natürlich kann ich dir verzeihen. Respektive: Das ist schon längst geschehen. Was nicht heißt, dass es keine Fragen mehr gäbe. Nur: Wer soll sie stellen?
Es wurde ein merkwürdiges, ein sehr stilles Essen, als wollte keiner herausrücken,
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