Alle Tage: Roman (German Edition)
Fenster. Männer auf einem Aufmarschplatz in der Nähe, ihren Hunden Plastikringe werfend. Pfiffe über Beton. Eine Gruppe Abiturienten. Körper, Rufe, Lachen. Später ein übendes Orchester. New World Symphony. Adagio. Später Fernseher. Später Stille. Später Betrunkene, dann wieder Stille. Das Ein- und Ausschalten des Gasboilers. Jetzt kannst du dich ausziehen. Das Wasser ist warm.
Die Zunge ist ihr nach dem langen Schweigen und Trinken schwer geworden: Ich geh ins Bett.
Sie macht ihm ein Lager aus Wolldecken, wo Platz ist, am anderen Ufer des Teppichs, zwischen Klotür und Schreibtisch, sie selbst legt sich ins Bett. Schließt die Augen und denkt daran, ob sie sich schlafend stellen sollte, wenn er hereinkommt, oder im Gegenteil, ihn ansprechen, und ob er wohl ahnt, dass sie schon sechzig ist. Fast. Die Frau Bora denkt an Sex mit dem Sohn des Mannes, dessen erste Liebe sie war, und – der Alkohol oder anderes –: es steigen ihr Tränen in die Augen. Doch bevor sie hinter den Lidern hervortreten können, schläft sie ein.
Aufwachen! Aufwachen!
Die Tür zum Innenhof steht offen, das Fenster im Zimmer auch, aber es nützt nichts, hier kann man keinen Durchzug machen.
Aufwachen! Aufwachen!
Tätschelt wild sein Gesicht. Er sitzt immer noch auf dem Küchenstuhl, mit Schulter und Kopf an die Wand gelehnt.
Oh mein Gott! Sie schluchzt, greift sich den Wasserkochtopf, der auf dem Herd steht, mit der anderen Hand eine Zeitung, wedelt, lässt sie fallen, nimmt das Wasser, wäscht ihm die Stirn. Ohgottohgottohgott.
Das Wasser rinnt ihm in die Augen. Es ist das Eierkochwasser vom Vortag, Salz und Essig drin, aber vielleicht ist das gerade gut. Das erste Mal, dass er sich rührt: kneift die Augen zusammen, und als ob er auch gestöhnt hätte. Alles in seinem Gesicht hat dieselbe Farbe: Wachs.
Aufwachen, schreit Bora. Du musst aufwachen! Ich weiß, dass es weh tut, aber du musst wach werden! Wir haben Gas! Hörst du mich?
Rührt sich nicht. Immerhin atmet er. Bora hustet, was in ein Schluchzen übergeht, was sie unterdrückt. Fasst ihn unter den Achseln, zerrt ihn vom Stuhl, der Stuhl fällt um, der Krach hallt im Innenhof wider. Sie muss sich mit ihm drehen, um zwischen Tisch und Herd durchzupassen, bleibt am Henkel des Wasserkochtopfes hängen, schleudert ihn vom Tisch. Bevor er auf dem Boden landet, fällt er auf Abels Schenkel, Restwasser versickert in seinem Hosenbein, ein Eiweißstückchen strandet auf dem dunklen Stoff.
Der verdammte Boiler, den sie für ihn angemacht und dann vergessen hat. In der Nacht muss die Flamme ausgegangen sein. Als sie am Morgen die Augen aufmachen wollte, konnte sie sie kaum öffnen, der Wecker klingelte, wie lange schon, normalerweise erwache ich vorher, und hätte sie vergessen, ihn zu stellen, wären sie vielleicht nie erwacht, aber so zwang sie die Lider auf, hinein in den rasenden Kopfschmerz, alles, die Augen, die Ohren, die Nasenschleimhäute wie aufgeschürft, der Mund wie mit Metall ausgeschlagen, dazu der Schwindel, praktisch auf allen vieren in die Küche, und seitdem versucht sie, ihn wachzubekommen.
Schleift ihn über den Steinfußboden zur Tür, ächzt, tut sich schwer. Es sind nur einpaar Schritte bis zur Schwelle, trotzdem, ich dachte, ich schaffe es nie. Ihre Finger bohren sich tief in seine Achselhöhlen, endlich in der Tür, sie legt ihn hin, vorsichtig, den Kopf extra in den Handtellern. Die Schwelle liegt jetzt unter seinem Nacken, der Kopf draußen im Hausflur, er ist von der Tür der Nachbarin aus zu sehen, Bora zeigt hin, dort, dieser Kopf, der da liegt, und man möge doch bitte gleich den Notarzt rufen.
Und die Gaswerke? fragt die Nachbarin. Bora schüttelt den Kopf.
Man muss in solchen Fällen die Gaswerke anrufen, sagt eine andere Nachbarin.
In der Viertelstunde, die es dauert, bis der Notarzt kommt, steht, wer zu Hause ist, auf den Rundgängen und sieht herunter auf den Kopf, der im Flur liegt, auf dem Fußabtreter, neben dem Blumenregal.
Wunder
Guten Tag, ich habe Ihren Sohn getötet.
Nein.
Ohgottohgottohgott, sagte Bora und lief auf und ab, im Krankenhaus – jemanden sprechen, die Ärzte haben keine Zeit, eine sommersprossige Praktikantin schaut gewissenhaft nach, misst Puls und Blutdruck, scheint ratlos, spricht beruhigend –, durch die Stadt, nach Hause, zu Hause. Die Durchsuchung seiner Sachen brachte ihr eine Telefonnummer mit ausländischer Vorwahl ein, dahinter in Klammern: (Schule). Sie schrieb die Nummer ab, den eigenen Zettel
Weitere Kostenlose Bücher