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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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wieder! Ich schaffe das nicht noch mal.« Ich erinnere mich daran, dass ich kurz aufatmete, als mir plötzlich einfiel, dass vielleicht mein Großvater oder meine Großmutter gestorben wären. Das, dachte ich, würde ich vielleicht noch irgendwie überstehen.
    Bereit zum Empfang der Trauerbotschaft stand ich auf und ging ins Wohnzimmer. Da saßen sie, alle in Schwarz, mit blassen Gesichtern, Hazel verheult, und fixierten den Fernseher. Ich trat einen Schritt vor. Jetzt war ich mir sicher, dass sie mich sehen würden, und machte mich bereit für die Todesnachricht, für die unter mir aufspringende Bodenklappe, für das nächste Nichts, das mir bestimmt war. Doch sie schienen mich gar nicht zu bemerken. Leise sagte ich: »Hi.« Stan sah zu mir hinüber, nickte. Mehr nicht. Hazel schnäuzte sich in ein Taschentuch. Hatten sie Angst, mir die Wahrheit zu sagen? Konnten sie meinen Anblick nicht mehr ertragen? Waren sie zornig auf mich, weil sie sich meinetwegen andauernd schwarz anziehen mussten? Ich ging zum Sofa und wollte etwas fragen, doch ehe ich sprechen konnte, hob Bill die Hand und deutete kraftlos auf den Bildschirm. Als Erstes sah ich zwei Mädchen, die sich mit den Händen ihre Münder zuhielten und mit angstgeweiteten Augen nach oben blickten. Das Bild wechselte. Durch den strahlend blauen Himmel wanden sich weißer Dunst oder Rauchwolken, teilten sich, Trümmer rasten durch die Luft, stürzten abwärts auf die Erde zu. Dann sah man wieder die verzweifelte Menge, viele junge Menschen, die nicht glauben konnten, was sich über ihnen ereignet hatte. Die Stimme, die mit um Fassung ringendem Vibrato aus dem Fernseher zu hören war, wiederholte mehrmals den Namen Christa McAuliffe. In der nächsten Einstellung war die Menge plötzlich heiter, ja überglücklich. Fähnchen schwenkend jubelte sie mehreren Astronauten zu. Unter ihnen auch diese Frau, Christa McAuliffe. Die Stimme sagte: »Christa will be the first teacher in space!« Sie bestiegen eine Raumfähre. Dann wurde wieder der blaue Himmel eingeblendet. Die Raumfähre glitt durch dieses tiefe Blau, flog dahin und explodierte. Nach nur 73 Sekunden. Hazel senkte den Kopf, konnte den Anblick nicht ertragen. Don wippte am Boden nervös mit der Fußspitze. Ich setzte mich auf Bills Sessellehne und flüsterte: »What happened?« Er flüsterte zurück: »A national tragedy. The Challenger exploded!« Bis tief in die Nacht saßen wir vor dem Fernseher und sahen uns, wie in einer tödlichen Endlosschleife gefangen, immer und immer wieder an, wie die Raumfähre startete, plötzlich in Flammen aufging, explodierte, und ihre brennenden Einzelteile durchs tiefe Blau regneten. Tagelang schien es so, als wäre der Fernseher zu nichts anderem erfunden worden, als diese Katastrophe zu senden. Mehrere Wochen wurden Stan und Hazel von diesem Ereignis beherrscht, so sehr, als hätte sie höchstpersönlich ein Schicksalsschlag getroffen. Auch in der Highschool wurde getrauert und ein geregelter Unterricht war tagelang unmöglich. Ich war noch mal davongekommen, aber die Nation hatte es erwischt.
    An einem frisch-windigen Morgen, die Gipfel der den Horizont zackenden Berge waren alle noch bis weit in die Täler verschneit, doch in der Prärie blühten schon, Teppiche bildend, Tausende von lila Blümchen, wuchtete ich den Westernsattel auf Mr. Spocks hohen Pferderücken, stellte die Steigbügel ein, einen Fuß hinein, hielt mich am Knauf fest und schwang mich hinauf. Mr. Spock knickte unter meinem Gewicht kurz mit den Hinterläufen ein, und dann, aus dem Stand heraus, galoppierte er los. Mit beiden Händen klammerte ich mich am Knauf fest. Die Zügel – es waren zwei Lederriemen, kein geschlossener Zügel – peitschten wild durch die Luft. Das Unkontrollierte seiner Sprünge galt eindeutig mir. Es hätte nur noch gefehlt, dass ich »Yeeehaaa!« gebrüllt hätte, so sehr passte diese Rodeoeinlage zu diesen Gattern, diesem Hochplateau, dieser ganzen Landschaft. Mr. Spock raste auf den Zaun zu und ich hatte Angst. Eine schöne, tiefe, völlig gerechtfertigte Todesangst. Ich sah es vor mir, wie er mit einem gewaltigen Satz in den Zaun krachen und mich für immer unter sich begraben würde. Kurz vor dem Gatter vollbrachte Mr. Spock eine physikalische Unmöglichkeit. Aus vollem Galopp blieb er einfach stehen. Bremsweg null Meter. Mir katapultierte es die Füße aus den Steigbügeln und die Zügelenden peitschten mir um die Ohren. Da ich mich mit aller Kraft am Westernknauf festhielt,

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