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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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übrig gebliebenen Bruder, meine Großeltern und meine Freundin dachte, sah ich sie so deutlich vor mir wie nie zuvor. So schrieb ich Randy:
    »Lieber Randy,
    heute will ich versuchen, dir über ein eigenartiges Gefühl zu berichten. Ich hab nicht viel Zeit, weil mich Brian gleich mit seiner Freundin zum Blueberrycake-Backen abholt. Diese Freundin ist echt seltsam. Du weißt schon, die Chirurgin mit den winzigen Händen. Immer wenn ich sie essen sehe, muss ich daran denken, dass sie mit ihren geschickten Fingerchen vielleicht am selben Tag jemandem den Blinddarm rausoperiert hat. Ich will ja vielleicht auch Arzt werden. Meinen Vater würde das sehr freuen. Na, ich hab ja noch ein bisschen Zeit zum Überlegen. Also, es geht um Folgendes: Ich schäme mich oft, weil ich denke, dass ich nicht traurig genug bin. Mein Bruder lebt nicht mehr und ich lasse es mir hier in Amerika gut gehen. Am liebsten würde ich nie wieder zurück. Ich habe ein wenig Angst vor meinen traurigen Eltern. Also nicht vor meinen Eltern, aber eben vor ihrer Trauer. Ich denke dann immer, wenn ich wieder in Deutschland bin, muss ich ununterbrochen für sie da sein. Dazu hab ich gar keine Lust. Wenn ich so etwas denke, fühle ich mich schlecht. Ich freu mich ja auch auf sie und auf den Hund und auf zu Hause und auf meine Freundin. Ich bin echt gespannt, ob das wieder gut wird, denn ich hab mich ja gar nicht mehr um sie gekümmert, und von Maureen weiß sie ja nichts. Hab ich dir ja eh geschrieben. Ich denke jetzt auch lauter Sachen über meine Familie, die ich noch nie gedacht habe. Erst seit ich weg bin, denk ich so was. Mir kommt das so vor wie bei einer Schneeballschlacht. Die beste Strategie, um nicht getroffen zu werden, ist doch den, der den Schneeball hat, zu umarmen. Sodass er nicht werfen kann. Je näher man dran ist, desto besser. So geht mir das mit meiner Familie, mit allen zu Hause. Die lassen mich nicht werfen! Die lieben und umarmen mich die ganze Zeit. Und jetzt hier in Amerika bin ich so weit weg, dass ihre Arme nicht herreichen, und endlich sehe ich sie mal aus der Weite und nicht immer von so nah. Sehe, was das überhaupt für Menschen sind. Jeder Einzelne. Nicht diesen Familienklumpen, sondern jeder steht von Weitem gesehen ganz für sich. Jetzt kann ich endlich werfen, kann sie sehen, zielen und sie treffen. Und davor hab ich Angst, dass mich, wenn ich wieder in Deutschland bin, alle wieder in den Arm nehmen und ich sie nicht mehr angreifen kann, weil ich die Hand mit meinem Schneeball vor lauter Liebe und Zärtlichkeit und Traurigkeit nicht hochbekomme. Und dass mein mittlerer Bruder gerade jetzt, wo ich anfange, ihn zu sehen, zu erkennen, nicht mehr da sein soll, ist ganz schrecklich für mich. Ich kann gar nicht glauben, dass ich ihn nie mehr wiedersehen werde. Denn er ist ja für mich nicht mehr weg als der Rest der Familie. Oft vergesse ich, dass er tot ist, und freu mich auf ihn. Oh, Brian fährt gerade mit seinem Jeep auf die Einfahrt.
    Bis bald. The German!«
    Eines Abends lag neben Randys Brief noch ein zweiter. Er war von Coach Carter, der mich für einen Nachmittag mit anschließendem Essen zu sich nach Hause einlud. Eine Woche später brachte mich Stan zu der angegebenen Adresse. Sein Haus lag am Ende einer Stichstraße auf einer Anhöhe. Ich sah es schon von Weitem. Vor den Fenstern hingen Blumenkästen mit Geranien. Ich hatte in Laramie noch kein einziges Haus mit einem Balkon gesehen. Coach Carter hatte einen. Wir fuhren auf die Auffahrt. Das Holzhaus war imposant. Doppelt so hoch und breit wie das von Stan und Hazel. Die Streben der Balkone waren kunstvoll gesägt, die Fensterläden waren aus dunklem Holz, ja sogar das Dach war mit Holzschindeln gedeckt. Es sah aus wie ein Bauernhaus im Schwarzwald! Stan und ich stiegen aus und bewunderten das Gebäude. Coach Carter kam aus der Haustür. Er trug eine Jeans und ein Hemd. Links und rechts von ihm ein Schäferhund. Sie drückten ihre gesenkten Köpfe an seine Unterschenkel. Er kam auf uns zu und ich war überrascht, wie anders er aussah. Ich hatte ihn immer nur in kurzer Hose oder im Trainingsanzug gesehen. Trug er sein Haar anders? Stan und Carter gaben sich die Hand. Stans Hand verschwand in der Riesenpranke von Carter. Beeindruckt von der Größe des Hauses, von der Größe Carters, beeilte er sich, in sein kleines deutsches Auto zu steigen und davonzufahren.
    Wir gingen ins Haus. Die Schäferhunde waren mir unheimlich. Sie wichen Carter nicht von der Seite,

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