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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Stan stöhnte, als hätte er eine Magenkolik, und ich hätte gerne weggesehen, wusste aber nicht mehr, wie man seinen Kopf dreht. Die Schildkröte krümmte sich. Das rosige Fleisch des Rückens begann langsam zu bluten. Ich dachte, das sieht ja aus wie das Fleisch unter meinen frisch herausgefallenen Fingernägeln. Und dann schrie die Schildkröte. Ein hoher Ton. Lang gezogen. Ich hatte nicht gewusst, dass Schildkröten überhaupt einen Ton von sich geben können. War es nicht gerade das Besondere an Schildkröten, dass sie stumm waren? Sehr alt wurden und stumm waren? Der Verkäufer steckte sie in eine Plastiktüte, die Frau zahlte und ging. Ging direkt an mir vorbei, strahlte mich mit ihrem einzigen schiefen Zahn an, und ich sah, wie die sterbende Schildkröte versuchte, in der Tüte wegzukriechen, wie das Plastik am blutnassen Rücken klebte. Vielleicht, dachte ich später bei einem Burger, haben sie nur diesen einen einzigen Ton, diesen Todeston. Sind ihr ganzes Leben stumm und schreien ein einziges Mal, wenn sie sterben.
    In Chicago sah ich im Shubert Theatre »Cats«. Ich glaube, Hazel weinte. Stan saß die ganze Vorstellung über da und hatte schlechte Laune, weil die Karten so unfassbar teuer gewesen waren. Bill war mit dem Flugzeug nach Chicago gekommen und übernahm unser Auto, um es zurück nach Laramie zu fahren. Stan, Hazel und ich flogen weiter nach Los Angeles und fuhren von dort in mehreren Etappen in einem Mietwagen zum Grand Canyon. Wir übernachteten in Motels und beteten in weißen Kapellen am Highway. Wir erreichten den Grand Canyon am Abend. So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen. Die bizarren Felsen im weichen Licht der Abendsonne. Am nächsten Tag ritten wir auf Mauleseln hinab bis zum Grund des Canyons und übernachteten dort in einem Blockhaus. Oben war es kalt gewesen. Je tiefer unsere Karawane auf den gewundenen Pfaden hinabkam, desto wärmer wurde es. Ein paar Tage später besuchte ich Disneyland und aß mit Mickey Mouse und Goofy zu Abend. Sie saßen mit uns am Tisch und Goofy reichte mir die Ketchupflasche herüber und fragte mich mit Comicstimme: »Hey, how are you? Where are you from?« Ich antwortete wie immer »I am from Germany«. Da fing Goofy zu singen an: »99 red ballons floating in the summer sky …« Mit seinen großen Puppentatzen zog er sich die wulstigen Lippen auseinander. Tief in Goofys Rachen sah ich zwei strahlende Augen. »I love Nena. Do you know her?« Ich antwortete leicht genervt: »No, I don’t know her.« Das war mir während meines Aufenthalts immer wieder passiert. So als wäre Deutschland ein Kuhdorf, in dem alle unter einem Dach wohnen würden. Goofy sprach mit völlig normaler Stimme: »Oh too bad. I really love her. She is wild. Doesn’t even shave her armpits!« Er klappte sein Maul zu und quietschte goofymäßig »Want some Ketchup on your french fries?«.
    Als wir zurück nach Laramie kamen, waren es nur noch sieben Tage bis zu meinem Abflug. Am Tag meiner Abreise kam Maureen, um sich von mir zu verabschieden. Sie hatte ihre Frisur stark verändert, ja, man könnte sagen, umgebaut. Die voluminöse Haarhaube hatte sich geteilt und war zu den Seiten gerutscht. Sie hatte eindeutig weniger Haarspray benutzt, und wenn sie den Kopf bewegte, schwangen ihre Haare sogar ein wenig nach. Das hatten sie früher nie getan. Auch schien sie ihr Make-up dosierter einzusetzen. Wir gingen hinunter zu Mr. Spock und setzten uns auf das Gatter. Mr. Spock kam neugierig angetrabt und stupste mich mit seiner grauweichen Schnauze. Wir hielten uns an den Händen, küssten uns, redeten kaum. »My Dad goes over to Switzerland in September. I will come along«, sagte sie. »Really? Sounds great. I will be there!« Wir glaubten beide nicht daran. Weder, dass Maureen mitfliegen würde – wie auch, es war ja während der Schulzeit –, noch, dass ich in die Schweiz kommen würde. Sie sagte: »I’ve got something for you, German!« Sie zog ein welliges Foto aus der Tasche. Maureen mit nassen Haaren, ungeschminkt: »That’s the way you like it, right?« Ich sah auf das Foto. Ihre glatte Stirn, die großen Augen, der etwas schmallippige Mund. Mr. Spock nagte an ihrem Cowboystiefel und ich drückte ihn mit dem Oberschenkel beiseite. Ich fand sie wunderschön. Mein langes, stilles Starren verunsicherte sie: »Do you like it? Something wrong?« »No, no … it’s just because … gee, you are so beautiful … I …« Ich schluckte und sprang vom Gatter. Wir gingen zurück zum

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