Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
Vom Netzwerk:
mittlerer Bruder tat nur so, als wäre er ein rabiater Autobahnraser, das sah ich genau. Mich konnte er nicht täuschen, dafür kannte ich ihn viel zu gut. Ich sah es an seinem Nacken, seinen flackernden Augen, die mir ab und zu im Rückspiegel begegneten, an seinen blutleeren Fingern, die sich am Lenkrad festkrallten. Er hatte Angst. Blickte bei jedem Überholmanöver zigmal zwischen Rück- und Außenspiegel hin und her. Jahrelang hatte mein Bruder eine dicke Brille getragen und zur Korrektur seiner auffällig großen Vorderzähne eine Zahnspange. Wenn ich ihn ärgern wollte, nannte ich ihn Ratte. Seit ein paar Wochen trug er nun Kontaktlinsen und sah dadurch vollkommen verwandelt aus. Die Zahnspangenfolter der letzten Jahre hatte Erfolg gehabt, die drahtlosen Vorderzähne waren makellos, symmetrisch eingereiht. Sein Gesicht kam mir fremd vor, ohne die Brille schutzlos, irgendwie nackt. Die Augen kleiner. Ich hatte sie immer nur vergrößert durch die gewölbten Brillengläser gesehen. Ein gut aussehender junger Mann mit feinen, ja, empfindlichen Gesichtszügen war aus ihm geworden.
    Erst vor einem halben Jahr hatte er seinen Führerschein gemacht, nachdem er zuvor zweimal durch die praktische Prüfung gefallen war. Bei der ersten Prüfung war er überheblich aus dem Haus gegangen, hatte mir auf den Hintern gehauen und gesagt: »Wenn du nett zu mir bist, Bruderherz, bring ich dich vielleicht morgen mit dem Auto zum Training.« Da die Stadt, aus der ich komme, nur geringe Anforderungen an einen Führerscheinanwärter stellt, musste jeder Fahrschüler immer wieder über die einzige große Kreuzung fahren, ja, im ständigen Überqueren dieser Kreuzung, dem sogenannten Gottorf-Knoten, aus jeder nur möglichen Richtung bestand die ganze Prüfung. Da bekannt war, wann ein Freund seine Prüfung haben würde, verabredete man sich mit selbst gemalten Schildern und Pappen am Gottorf-Knoten, um dem Führerscheinanwärter beizustehen. Das war eine Tradition, und so standen auch, als mein Bruder seine Prüfung hatte, Freunde und Freundinnen am Straßenrand. Winkten und hielten ihre mitgebrachten Plakate hoch. Da stand dann zum Beispiel »Blinker raus, altes Haus!«, »Schalten nicht vergessen!« oder »Vorsicht Kurve, alte Sau!«. Auch ich hatte schon dort gestanden und meinen Freunden, die bereits achtzehn waren, beigestanden. Natürlich war diese Art von Beistand für den sich hoch konzentrierenden Prüfling im Grunde eine weitere Belastung, ja, eigentlich eine Zumutung. Doch genau darum ging es: gelassen zu bleiben, es zu ertragen und nicht etwa kleinlich zu reagieren. Wenn man das Auto kommen sah, fingen alle an zu johlen und zu schreien oder mit geballten Fäusten anfeuernd ein Stück neben dem Auto herzurennen. Wenn es vorbeigefahren war, zog man gemächlich auf die andere Straßenseite um, da man genau wusste, bald würden sie zurückkommen. Bei seiner ersten Prüfung hatte mein Bruder auf dem Gottorf-Knoten meisterhaft alle dekonzentrierenden Animationen dieser Art ausgeblendet und war den Anforderungen dieses kleinstädtischen Verkehrsknotens vollkommen gerecht geworden. Die Gewissheit, das Schwierigste geschafft zu haben, muss ihn auf der Rückfahrt zum Parkplatz in euphorische Unaufmerksamkeit versetzt haben. Beim Einbiegen auf den Platz übersah er ein Schulkind auf einem Fahrrad. Hätte der zu Tode erschrockene Fahrlehrer nicht in letzter Sekunde auf seine zweite Bremse getreten – auch er hatte sich ja schon entspannt und Vertrauen in die Fahrkünste meines Bruders gewonnen –, wäre dem Schulkind vielleicht ernsthaft etwas passiert. Er bremste so scharf, dass der Prüfer auf der Rückbank mit der Stirn gegen die Kopfstütze vor ihm knallte. Mein Bruder hatte das Kind immer noch nicht gesehen, glaubte sogar an einen etwas rustikalen Scherz des Fahrlehrers als Zeichen seiner bestandenen Prüfung. Das Kind rutschte vor Schreck mit der Sandale vom Pedal in die Speichen hinein, quetschte sich die Zehen, stürzte und schlitterte schmerzhaft mit den Handflächen über den Asphalt. Der Fahrlehrer sprang aus dem Wagen und beugte sich auf die Straße hinunter. Das sah mein Bruder und wusste noch immer nicht, was geschehen war. Da tauchte an der rechten Seite des Autos das käsebleiche Gesicht eines Jungen auf. Wie ein Verstorbener, der sich aus seinem Grab erhebt und ungelenk ein paar Schritte macht, sei das Kind auf ihn zugegangen, erzählte mein Bruder später tief erschüttert. Fünfzehn weitere Fahrstunden musste er

Weitere Kostenlose Bücher