Alle Toten fliegen hoch: Amerika
nehmen. Bei seiner zweiten Prüfung hatte er siebenundzwanzig Fahrstunden. Das war unter seinen Freunden der Minusrekord. Oft, und insbesondere, wenn es Schüler aus dem meine Stadt zur Genüge umgebenden dörflichen Umland waren, die auf Feldwegen übten oder auf dem Bauernhof schon mit acht Jahren Trecker fuhren, brauchten sie kaum mehr als zehn Fahrstunden.
Und trotz seiner rufschädigenden siebenundzwanzig Fahrstunden – »Ich kann diesen scheiß Gottorf-Knoten nicht mehr sehen!« – schaffte mein Bruder auch seine zweite Prüfung nicht. Diesmal beging er keinen Kapitalfehler, sondern eine ganze Reihe von klassischen Unachtsamkeiten, die jedoch in ihrer Summe zu nichts anderem führen konnten als zur neuerlichen Disqualifikation. Aufgrund einer ihn heimtückisch heimsuchenden Nervosität, die seine Fingerspitzen zittern ließ, würgte er mehrmals den Motor ab, vergaß, rechtzeitig zu blinken, schaltete aus Versehen den Scheibenwischer ein und bekam ihn nicht mehr aus. Erst Wochen später konnte mein Bruder über das, was ihm der Prüfer damals gesagt hatte, lachen: »Gibt’s gleich Regen? Da, wo ich herkomme, schaltet man den Scheibenwischer erst an, wenn es regnet, und nicht ’ne halbe Stunde vorher. Blinken allerdings tut man da, wo ich herkomme, schon bevor man abbiegt und nicht erst danach!« Nach diesem erneuten Tief-, ja, Niederschlag kam mein Bruder nach Hause und schloss sich im Badezimmer ein. Meine Mutter und ich standen vor der Tür, drinnen hörte man klägliches Schluchzen, Rotzehochziehen und Seufzen, und der Hund, der ja sein Hund war, leckte emphatisch die Klinke. Vor seiner dritten und, wie er schwor, letzten Prüfung brachte ihm mein Vater einen, wie er sagte, »leichten Betablocker« aus seiner Praxis mit, da mein Bruder, sobald er nur an die Prüfung dachte, zu schlottern begann. Ich sagte zu ihm: »So was bekommen Schweine, damit sie beim Transport vor Panik nicht an Nierenversagen sterben.« »Halts Maul!« Mehr sagte er nicht. Er hatte dunkle Augenringe, war aber guter Dinge. Nach dem Frühstück drückte er den Betablocker aus dem Plastik heraus auf seinen Teller. Die Tablette war groß. Er legte sie sich auf die Zunge, sah mit fatalistischer Heiterkeit von einem zum anderen. Mit viel Wasser und mehreren Schluckversuchen bekam er die Pille hinunter. Meine Mutter, mein Vater und ich sahen ihm dabei zu und wünschten ihm viel Glück. Eine Stunde später ging er aus dem Haus. Immer wieder hatte ich ihn gefragt: »Merkst du schon was?« Alle zehn Minuten: »Merkst du jetzt was?« Mein Bruder gab mir gemeine Antworten wie »Ja, ich merke, dass ich dir gleich eine reinhaue!«, die mich aber beruhigten, da ich dadurch wusste, dass er in guter Verfassung war. Mein Bruder sprang über seinen labilen Schatten und bat alle Freunde nachdrücklich, bei seiner dritten Prüfung dem Gottorf-Knoten fernzubleiben. Diese dritte Prüfung schaffte er fehlerfrei. Er wäre, erzählte er später, auf einer goldenen Wolke durch den Verkehr geschwebt. Butterweich hätte er geschaltet und geblinkt und es dem Gottorf-Knoten so richtig besorgt. Einzig, dass er mehrmals nur einhändig gefahren war, hätte der Prüfer moniert.
Auf dem Weg zum Frankfurter Flughafen beschlossen mein Bruder und sein Freund bei jeder sich bietenden Gelegenheit, von der Autobahn abzufahren und auf einem Parkplatz oder an einer Raststätte ein, wie sie sagten oder im Duett riefen, »Zigarettenpäuschen« einzulegen. Rauchend lehnten sie am Wagen, und als die Sonne rauskam, zogen sie sich ihre T-Shirts aus und legten sich auf die Motorhaube. Während dieser Rauchpausen sah ich die Lastwagen, Busse und Autos, an denen wir kurz zuvor vorbeigeschossen waren, hübsch der Reihe nach am Parkplatz vorbeifahren. Zwanzig Minuten »Kickdown!« und zwanzig Minuten »Zigarettenpäuschen!«, so näherten wir uns dem Frankfurter Flughafen. Ich stieg schon gar nicht mehr mit aus und da ich nicht rauchte, noch nie auch nur an einer Zigarette gezogen hatte, langweilten mich die ständigen Unterbrechungen gewaltig. Bei einer dieser Pausen holte ich meinen Brustbeutel unter dem T-Shirt hervor und nahm das Geldbündel heraus. Ich zählte die Scheine. Grün und weich waren sie. Vierhundert Dollar. Das Zählen, Befühlen, Gegen-das-Licht-Halten und Auf-die-Rückbank-Hinblättern dieser Geldscheine hatte etwas Erregendes. Das war die Währung, in der ich meine Abenteuer bezahlen würde. Wer mit Dollars zahlt, dachte ich, der kann gar nicht anders im Leben
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