Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
Vom Netzwerk:
stehen als felsenfest und standhaft. Gegen George Washington war Elsbeth Tucher chancenlos. Wir fuhren weiter. Während ich meine Hand aus dem offenen Fenster streckte, meine Finger wellenförmig durch den schlagenden, knatternden Luftstrom gleiten ließ, dachte ich über die Frage des Freundes meines Bruders nach, ob ich schon mal geflogen war. Ja, war ich. Ein einziges Mal.
    Mit fünf Jahren, zusammen mit meinen Großeltern und meiner Mutter nach Lanzarote. Bis zu dieser Reise sind meine Erinnerungen bruchstückhaft, nebulös, halb geträumt, halb erfunden. Doch von der Lanzarote-Reise weiß ich vieles, Ureigenes, unverwässert durch Fotos und Erzählungen. Der Landeanflug auf Lanzarote. Ich sitze am Fenster. Neben mir meine Mutter mit einem geblümten Kopftuch. Vor mir am Fenster mein Großvater. Über der Sitzkante sein weißes Haar, durch das ich auf der Kopfhaut kleine Muttermale erkenne. Daneben meine Großmutter. Sie ist zu klein, um über die Sitzkante zu ragen, aber zwischen den Lehnen sehe ich ihren Arm liegen. Gebräunt. Am Handgelenk einen schweren Goldreif, an den Fingern mehrere breite Ringe. Ein Stein, über den sie gesagt hatte, es sei ein Mondstein. Konnte das sein? Ein Stein vom Mond? Der Flugkapitän hatte die Landung bereits angekündigt. Das Flugzeug verlor an Höhe und das Meer kam näher. Blau versteinert sah es aus, zwar gekräuselt, mit Schaumkronen, aber starr. Immer näher kam dieses metallische, gefrorene Blau. Ich sah kein Land, keine noch so kleine Insel weit und breit. Wir rasten über das Meer hinweg, das zögerlich in Bewegung zu geraten, sich zu verflüssigen schien. Ich entdeckte einzelne wogende Wellen. So nah! So nah kam die Wasseroberfläche. Laut rief ich ins Flugzeug hinein: »Großvater, wir stürzen ab!« Vollkommen glücklich, dabei sein zu dürfen. Ich drückte meine Nase an das Fensterchen, sah den Schatten unseres Flugzeugs über die prächtigen Wellen gleiten und erwartete den Absturz. Oder zumindest, dass wir eintauchen und unter Wasser weiterfliegen würden. Da sah ich zerklüftete Felsen, an denen sich die Wellen brachen, die Gischt in feuchten Schwaden vom Wind davongetragen wurde. Unmittelbar danach setzten die Räder auf und wir waren auf Lanzarote angekommen. Hat diese Absturzbegeisterung mein Erinnerungsvermögen erweckt? Vielleicht. Es kommt mir so vor, als ob sich in diesem Moment ein bis dahin brachliegendes Areal in meinem Gehirn aktiviert und die nächsten zwei Wochen Lanzarote penibel aufgezeichnet hätte.
    Meine Mutter, meine Großeltern und ich wohnten in einem Bungalow. In einem Halbkreis um die Terrasse herum gab es gegen den heißen Wind eine hohe Steinmauer. In diese geschützte Biegung hinein baute ich aus den Strandguthölzern im Laufe der zwei Inselwochen eine sich an der Mauer hinauftürmende Stadt. Die Holzstückchen, Klötze und Brettchen, die ich fand, waren leicht und geschwungen. Das Meer hatte ihnen die scharfen Kanten und das Gewicht genommen. Die Brettchen steckte ich in die Ritzen zwischen den Mauersteinen. Das waren die stabilen Fundamente, auf denen ich alles, was ich gefunden hatte und noch finden würde, aufschichten konnte. So entstand eine etagenartige, kunstvoll an den Hang geschmiegte Miniaturstadt. Jeden Tag ging ich zum Strand und suchte und sammelte. Ins Meer durfte ich nicht, da die Strömung der abfließenden Wellen sehr stark war. Als ich einmal zu nah am Meer mit gesenktem Kopf den Sand absuchte, überspülte mich plötzlich eine weißrauschende Welle. Nicht ganz. Aber meine kurze Hose wurde nass bis zum Bund. Die Welle hob mich ein Stück, trug mich zwei, drei Meter den Strand hinauf. Setzte mich behutsam ab und floss weiter an mir vorbei. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie allen Schwung verloren hatte und sich auf den Rückweg ins Meer machte. Ich stand im Wasser und hielt meine Fundstücke in die Höhe. Das Wasser kam zurück. Umspülte meine Waden. Der Boden unter meinen Füßen verwandelte sich in flüssigen Sand. Was für ein Sog! Ich fiel ins Wasser. Ich konnte nicht schwimmen. Tauchte unter, und wenn ich an die Oberfläche gestrudelt wurde, sah ich den Himmel oder das Meer. Da packten mich zwei Hände und mein Großvater riss mich aus dem schäumenden Wasser, stemmte mich über seine Schultern in die Luft. Von da an musste ich stets einen Sicherheitsabstand vom Meer einhalten und durfte nur noch in einem zwanzig Zentimeter tiefen Kinderplanschbecken herumwaten, in dem tote Kellerasseln trieben. Am Strand

Weitere Kostenlose Bücher