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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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unbelehrbaren Vaters hin überfrüh abgefahren und würden trotz all der Zigarettenpäuschen auch überfrüh am Flughafen ankommen. Mein Vater hatte eine groteske Rechnung aufgestellt: Wir sollten doppelt so viel Zeit einplanen, wie wir im ungünstigsten Fall brauchen würden. Nach zähen Verhandlungen waren wir immerhin so losgefahren, dass wir bei normalem Verkehr spätestens vier Stunden vor meinem Abflug am Flughafen wären. Ich sah auf die Uhr. Wir hatten alle Zeit der Welt.
    Beim großen Abschiednehmen war mir etwas Unangenehmes, vielleicht sogar Unverzeihliches passiert. Etwas, das mich jetzt, da ich wieder daran dachte, betrübte, aber auch etwas widerwillig machte. Viele meiner Freunde waren gekommen, meine Freundin war da, meine Eltern, mein mittlerer Bruder. Von meinen Großeltern und meinem ältesten Bruder hatte ich mich bereits am Morgen am Telefon verabschiedet. Nun standen wir alle um das voll beladene Auto herum. Zwei schwere Reisetaschen und eine Sporttasche von mir, von meinem Bruder zwei Koffer, ein Müllsack voller Wäsche und auf der Rückbank angeschnallt sein Lieblingsrattansessel. Ich wollte keine Koffer. Zwischen uns rannte aufgeregt der Hund vom einen zum anderen. Meine Mutter versuchte, nicht zu weinen. Weinte dann aber doch, legte ihre Stirn an meine Brust und hielt sich an mir fest. Dann lachte sie und sagte: »Ich freu mich so für dich, dass es jetzt endlich losgeht! Ach, mein Lieber!« Mein Vater nahm meinen Kopf in seine vom vielen Waschen und Desinfizieren weichen Arzthände und sagte: »Hab es gut, mein lieber Sohn. Pass gut auf dich auf und erlebe lauter schöne Dinge. Ich beneide dich sehr und hab dich schrecklich lieb.« Ich bekam Sorge, dass dieser Abschied für ein Jahr den nötigen Schwung verlieren könnte. Den Schwung, den ich brauchen würde, um froh ins Auto zu steigen und davonzubrausen. Meine Freunde klopften mir auf die Schulter, oder wir umarmten uns kurz und kantig. Ich muss jetzt sofort los!, dachte ich, sonst wird es nur immer schwerer. »Müssen wir nicht langsam mal fahren?«, fragte ich meinen Bruder, der schon im Auto saß und sich den Rückspiegel einstellte. Auch der beste Freund meines Bruders, seine Reisebegleitung, war schon eingestiegen. »Nee, ist doch noch viel zu früh!« Ich kniete mich hin und verabschiedete mich von unserem Hund. Ich umarmte ihn, mein Ohr an seinem Ohr, und kraulte ihm den Nacken. Der Hund wurde eigenartig still, stand regungslos da, und ich kauerte vor ihm und hielt ihn ganz fest. Ein inniger Abschied. Belustigt hörte ich einen Freund seufzen: »Och nee, guck mal!« Ich war mir sicher: Wenn ich jetzt nicht sofort in dieses Auto steige und losfahre, fang ich zu heulen an. Ich sprang auf, heraus aus der warmen Hundeumarmung, und rief: »Los gehts!« In Richtung meiner Eltern: »Ich ruf euch an, wenn ich in New York gelandet bin!« Mein Bruder fragte: »Echt, wollen wir jetzt schon los?« »Ja«, sagte mein Vater, »dann habt ihr keine Eile. Fahrt bitte vorsichtig!« Ein letztes Mal umarmte ich meine Eltern und krabbelte zum Rattansessel auf den Rücksitz. Die Türen flogen zu.
    Mein Bruder ließ den Motor an und wir rollten los. Ich drehte mich um und winkte durch die Rückscheibe der ebenfalls winkenden Menschentraube zu. Wir waren schon vom Parkplatz auf die Straße abgebogen und ich sah nun durch das Seitenfenster zurück. Noch fünf Meter Straße, dann würden sie alle für ein Jahr von der näher kommenden Häuserecke verschluckt werden. Da veränderte sich ihr Winken. Sie winkten nicht länger zum Abschied, sie winkten mich wild zurück. Hatte ich etwas vergessen? Ich griff mir ans T-Shirt. Der Brustbeutel war da. Pass, Flugtickets, Geld! Das war doch alles im Brustbeutel! Das hatte ich doch kurz vorm Einsteigen noch mal kontrolliert. »Stopp mal!«, rief ich, »ich glaub, ich hab irgendwas vergessen. Keine Ahnung, was. Die winken so komisch!« »Oh Mann, echt?« Mein Bruder fuhr in die nächste Einfahrt und wendete den Wagen. Jetzt sah ich die Gruppe langsam wieder auf mich zukommen. Meinen Vater, meine Mutter, die den an der Leine zerrenden Hund festhielt, meine Freunde: Alle winkten mich zurück. Wir kamen näher. Da entdeckte ich sie und begriff. In der ersten Reihe, vor allen anderen, stand meine Freundin. Der Wagen hielt. Ich stieg aus. Ein Freund sagte: »Na, wie wars in Amerika?« Ein anderer: »Ich finde, er hat sich gar nicht verändert.« Ich ging zu meiner Freundin und umarmte sie. Ich flüsterte: »Tut mir leid.

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