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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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fand ich auch rundgeschliffene Glasscherben, weiß, grün, braun, Fischernetzfetzen und drei Angelgewichte aus Blei. Wie ein Maler vor der Staffelei stand ich vor meiner Mauerstadt, trat heran, trat zurück, kletterte auf einen Hocker und fügte die neu gefundenen Teile ein. Die Stadt wuchs und wuchs. Es gab Hütten, Klettersteige, Höhlen und sogar einen waghalsig konstruierten, alles andere überragenden Palast mit einem Muschelthron. Ich dekorierte dieses Treibgutschloss mit glitzernden Steinen, steckte Äste in Ritzen als Fahnenstangen, an denen an Fäden getrocknete Sepien hingen und sich im Wind drehten. In die Sepien ritzte ich ein Zeichen ein, das Wappen des Mauerkaisers.
    Am Morgen unserer Abreise bat ich meine Mutter um einen Karton. Ganz genau genommen sagte ich Folgendes: »Mama. Hast du vielleicht irgendeine Kiste oder einen Karton? Obwohl, ich glaube nicht, dass eine Kiste reichen wird.« »Wofür brauchst du die denn?« »Für die Stadt!« »Ach Lieber, die können wir doch nicht mitnehmen.« »Was?« »Sei nicht traurig!« »Ich will die aber zu Hause wieder aufbauen!« »Ach, mein Lieber, das geht doch nicht. Komm, guck nicht so. Tut mir ja auch leid, aber das geht wirklich nicht.« Ich weinte und meine Großmutter kam aus dem Bungalow und fragte meine Mutter: »Was hat er denn? Ist was passiert?« »Ach, er ist traurig, dass er seine Klötzchen nicht mitnehmen kann!« Meine Großmutter wandte sich zu mir und sagte: »Ach Lieberling, das geht wirklich nicht. Wir haben eh so viel Gepäck.« Ich weinte lauter. Mein Großvater kam dazu: »Was ist denn hier los? Warum weint er schon wieder?« Meine Großmutter begann den Satz, »Er ist traurig …«, und meine Mutter sprach ihn zu Ende, »… weil er seine Stadt nicht mitnehmen darf«. Mein Großvater legte mir die Hand auf den Kopf: »Weißt du, das geht wirklich nicht. Wir dürfen nicht mehr mitnehmen, als wir mit hergenommen haben!« Da hatte ich genug. Ich ließ mich rückwärts auf die Terrakottafliesen fallen und bekam einen meiner allseits bekannten Wutanfälle. Das ungeschützte Fallenlassen war wichtig und stets der Auftakt, da ich das Aufschlagen des Hinterkopfes auf etwas Hartes brauchte, um den richtigen Ragegrad zu erreichen. Ich fällte mich selbst. Das war der Startschuss. Der Schmerz überwältigte mich und wie in einem Topf fing das Blut unterm Lockendeckel zu kochen an. Ich trat und schlug um mich, zuckte und zappelte und brüllte meinen Zorn heraus. Ich kannte diese Attacken zu Genüge. Die Reaktionen auf diese Wutausbrüche waren sehr unterschiedlich. Reichten von Festhalten und In-den-Arm-Nehmen über lautes Rufen bis hin zu Überforderung und Abwendung. Sauber verteilt waren die Rollen auch diesmal. Meine Mutter versuchte, mich vom Boden zu heben, mich zu umarmen, meine Arme und Beine durch eine liebevolle Umklammerung zu bändigen. Meine Großmutter rief laut: »Junge! Bitte, was soll denn das? Hallo! Hallo! So hör doch auf! Ist denn das die Möglichkeit? Was ist denn mit dem Jungen los?«, und mein Großvater, und das hörte ich trotz tosendem Bluts und verzieh es ihm nie mehr ganz, wandte sich angewidert ab und sprach sein Fazit, einen echten Fallbeilsatz: »Dieses Kind ist ja krank im Kopf!« Als ich das hörte, rastete ich komplett aus, kämpfte mich aus der Mutterumarmung heraus und rannte auf die Mauer zu. »Nein, nicht! Nicht!«, rief meine Mutter noch. Mit voller Wucht warf ich mich in die Aufbauten hinein. Wie ein wahnsinnig gewordener Diktator drosch und prügelte ich auf mein Kaiserreich ein. Wischte und riss alles, was ich erreichen konnte, herunter. Schob im Zorn den Hocker heran und sprang von ihm mit dem Rücken voran in den höher gelegenen, fischernetzumspannten Palast. Mein Großvater ging in den Bungalow und zog die Glastür zu. Meine Großmutter stand da, kopfschüttelnd, und meiner Mutter konnte ich ansehen, wie leid ich ihr tat, während ihr die Erfahrung sagte, abwarten sei hier das einzig Richtige. Meine Zornausdauer hat mich stets selbst überrascht. Nur beim Sport und im Zorn bewies ich solche Hingabe. Ich gab erst Ruhe, als auch das letzte Brettchen aus der Mauer gerissen, jede einzelne Sepia zerbrochen, mein Reich ausradiert war.
    Mein mittlerer Bruder und sein bester Freund hatten eine Musikkassette eingelegt und jetzt vermischten sich monotone Beats, elektrisches Knistern mit dem Rauschen des Fahrtwindes. Noch knapp drei Stunden bis zum Flughafen. Wir waren auf die massive Empfehlung meines

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