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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Tut mir so leid!« Ihre Arme hingen schlaff hinunter: »Ist schon gut. Nicht so schlimm!« »Aber wo warst du denn eben?« »Auf’m Klo!« »Auf dem Klo?« »Ja, ich dachte, es ist noch nicht so weit. Ihr wolltet doch um Viertel vor los, und als ich rauskam, warst du weg!« Alle waren jetzt still geworden. Ich drückte sie an mich, küsste sie auf ihren schlaffen Mund. »Tut mir leid, aber ich muss jetzt echt los!« Ich hatte überhaupt keine Lust, sie zu trösten. Meine Mutter kam dazu: »Jetzt fahrt mal.« Dieser ganze Abschied begann erheblich zu knirschen. Das zweite Ins-Auto-Steigen war seltsam schal. Das Winken der Eltern und Freunde nur noch eine müde Imitation des ersten Abschieds. Sogar der Hund, das sah ich genau, zog nicht mehr an der Leine in meine Richtung, sondern schnüffelte am Boden herum. In der Mitte stand meine Freundin und winkte mir nach, winkte mir nach, ohne mir nachzusehen, winkte mit gesenktem Blick, winkte bestimmt noch, als wir schon um die Ecke waren, winkte ins Leere.
    »Du bist ja ein echt harter Hund!«, sagte der Freund meines Bruders. »Verschwindet für ein Jahr nach Amerika und sagt seiner Freundin nicht Tschüs!« Kurz nach Hannover tankten wir. Mein Bruder und sein Freund rochen am tropfenden Benzinhahn und der Freund sagte: »Das knallt!« Danach übernahm er das Steuer und fuhr noch schneller als mein Bruder. »Hat den dein Vater schon mal richtig ausgefahren?« »Nee, bestimmt nicht. Der fährt nie schneller als hundertzwanzig.« »Das ist aber wichtig für den Motor. Wenn man den nicht hin und wieder richtig durchpustet, verstopfen die Ventile.« Wir wurden schneller. »Los: zweihundert. Mal sehen, ob das die Karre draufhat.« Noch schneller. »Und jetzt durchbrechen wir gleich die Schallmauer!« Tatsächlich zitterte sich die Tachonadel über die hundertneunzig auf die zweihundert zu. »Komm, ist gut!«, rief mein Bruder. »Gleich! Wir habens doch gleich geschafft! Da ist noch einiges drin!« Mein Bruder sah immer mehr so aus, als würde er im ersten Wagen einer Achterbahn sitzen: »Ey, ist gut jetzt!« Der Freund ging vom Gas, bremste. »Ah, da ein Parkplatz! Zigarettenpäuschen gefällig?« Mein Bruder nickte und mit hundertvierzig Sachen jagte das Auto auf die rechte Spur zwischen zwei Lastern hindurch direkt auf den Parkplatz und kam mit etwas, das man durchaus als »Vollbremsung« bezeichnen konnte, zum Stehen. Mein Bruder war kreidebleich und stöhnte voller Anerkennung: »Du hast ja nicht mehr alle Tassen im Schrank! Ey Alter, was war denn das für ein Manöver?« »Was denn, was denn? Alles unter Kontrolle! Komm, lass uns eine rauchen.«
    Mir war schlecht, ich stieg aus. »Ich bin gleich wieder da!« Ich ging ein Stückchen und kam am Rand des Parkplatzes zu einem Fichtenwäldchen. Ich lief hinein. Waldgeruch. Verstreut auf dem braun benadelten Waldboden Taschentücher und unterschiedlich stark verwitterte Exkremente. Durch die Bäume hindurch sah ich eine Wiese. Ich duckte mich. Die unteren, trockenen Äste der Nadelbäume kratzten über meinen Rücken. Als ich aus diesem schmalen Autobahnparkplatzbegrenzungsfichtenwaldstreifen ins Freie trat und mich aufrichtete, fand ich mich leicht erhöht und hatte einen herrlichen Ausblick über weitläufige Wiesen, in denen malerisch Grüppchen von Birken standen. Wie gerne wäre ich in diese Landschaft hineingewandert. Mit einem Stock über der Schulter, an dem ein kleines Bündel hängt. Da hörte ich meinen Bruder: »Ey, wo bist du denn. Komm ma aus dem Wäldchen raus! Wir wollen weiter!« Ich rief in die Fichten: »Ja, gleich. Komm ja schon!« Ich atmete tief ein und aus und hatte nicht die geringste Lust, mich wieder auf die Rückbank zu zwängen, den Kopf einzuziehen und meine langen Beine zusammenzufalten. »Ey, los, komm.« Ich hörte sie lachen. Ich bückte mich und kroch zurück. Als ich zum Auto kam, grinsten sie mich beide an. »Naaa, was haben wir denn da so lange im Wäldchen getrieben, junger Mann?«, fragte mich der Freund, und mein Bruder: »Ich find, hier riechts ein bisschen streng!« Wir fuhren los, und nach einer Viertelstunde fragte mich plötzlich der Freund meines Bruders, ohne sich zu mir nach hinten zu wenden, trocken: »Sag mal, Alter, hast du da echt eben in das winzige Wäldchen reingewichst?« Mein Bruder brüllte los vor Lachen, und sogar ich musste lachen, obwohl es mir peinlich war, so etwas gefragt zu werden: »Quatsch, Mann. Ich bin da nur ein bisschen rumgegangen!« Während der restlichen

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