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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Osterei. Sein speckiger Hals war scharf rasiert bis in den Hemdkragen hinein. Das Fleisch seiner Wangen vibrierte, als wäre es aus Gelee. Ein Mann in Aspik. Er war nicht, wie ich gedacht hatte, Amerikaner sondern Holländer. »Mevrouw, mag ik nok een portie?« Er behielt beim Essen seinen Plastikbecher in der Hand und stellte den viereckigen, in Fächer eingeteilten Teller auf seinen Bauch, da er das Tablett nicht herausklappen konnte. Er machte große Pausen zwischen den einzelnen Bissen und kaute und kaute, so lange, dass es mir auf die Nerven ging und ich bei jedem Bissen dachte: »Mensch, jetzt schluck schon endlich runter!« Ganz anders das Kerlchen am Fenster. Es verhielt sich wie ein Äffchen. Ein neurotisches Äffchen mit Halbglatze. Er legte gleich nach dem Start einen kleinen Karton auf seine Ablage, riss daran herum und packte ein Schweizer Taschenmesser aus. Ich war erstaunt und besorgt, dass man ein Messer mit an Bord nehmen durfte. Er las in der Gebrauchsanweisung und probierte sämtliche Funktionen an sich selbst aus. Kratzte sich mit dem Messer den Dreck unter den Fingernägeln hervor, schnitt sich mit der Nagelschere die Nägel und warf die Hornspäne unter den Sitz. Zog die Feile heraus. Er sah mit seinen flinken Augen und den struppigen Haaren über den Ohren nicht nur wie ein Äffchen aus, er bewegte sich auch so. Bei jeder noch so kleinen Turbulenz erschrak er und sah blitzschnell aus dem Fenster, als hätte ihn der Schrei eines wilden Tieres beim Lausen gestört, um sich dann genauso ruckartig wieder dem Messer zuzuwenden. Die dicke Eule war müde vom Essen und schlief ein. Dadurch wurde ihr Bauch noch größer, entspannte sich und floss bis auf meinen Oberschenkel. Ich dachte über sein Hemd nach. Wie schaffte man es bei so einer Wampe, dass das Hemd in der Hose stecken blieb? War es an der Unterhose befestigt? War es ein spezielles Stretchhemd für Extrafette? Gab es solche Hemden in Amerika? Sollte ich meinem Vater so eins mitbringen? Oder wäre er dann beleidigt? Die Eule schnaubte und das Äffchen besah sich durch die Schweizer Messerlupe die Kringel seiner Fingerabdrücke auf den Gläsern seiner Lesebrille. Kurz flackerte sein unsteter Tierblick zu mir herüber, bevor er mit der Sägefunktion die Pappschachtel zersägte und dann mit der Zange die Schnipsel schnappte und in seinen Becher warf.
    Im Flugzeug wurde es still und stiller und auch ich wurde müde. So müde, dass ich mich der Fettlawine von rechts nicht länger erwehren konnte. Über Stunden hatte ich um einen Sicherheitsabstand gerungen, meine Wirbelsäule weggekrümmt und saß auf der winzigen Fläche meines Sitzes ganz an den linken Rand gepresst. Mir fielen die Augen zu und so gab ich allen Widerstand auf und verschmolz mit dem warmen Bauch meines holländischen Nachbarn. Im Halbschlaf hatte ich mehrmals das Gefühl, meine rechte Körperhälfte würde in Treibsand versinken. Als Letztes sah ich noch, wie das geschäftige Männlein mit der Pinzette tief in seiner Nase herumdokterte, sich Borken mit Nasenhaaren herausriss und sie sorgfältig auf die Ablage reihte. Sie sahen aus wie gelbe eingetrocknete Spinnen mit Beinchen. Wollte er sie etwa mit dem Schweizer Zahnstocher aufspießen und essen? Ich schloss endgültig die Augen. Rechts neben mir Schlafseufzer, Stoßatmer, und tief in seinem Fett meinte ich, ein gegen Fleischwände anpochendes Herz zu hören. Oder war das mein Herz? Oder waren das Fluggeräusche? Links nun doch nicht etwa wirklich Knuspergeräusche, oder was war das? Was aß der denn? Geweckt wurde ich durch die in breitem Amerikanisch durchs Flugzeug schallende Ansage des Kapitäns. Es klang wunderbar gelassen, doch ich verstand kein Wort. Das war kein gutes Omen. Sollte mein Englisch so schlecht sein, dass ich nicht mal die Ansage in einem Flugzeug verstand? Dabei hatte uns unsere Austauschbetreuerin Traudel Buscher-Böck ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es eine Weile bräuchte, bis man sich, und das waren exakt ihre Worte, »in den Sound der Amis eingegroovt hat«. Ich hatte mich definitiv noch nicht eingegroovt und keine Ahnung, was durchgesagt worden war. Das Flugzeug veränderte seinen Brummpegel und ging in den Landeanflug über. Ich hätte so gerne die Freiheitsstatue gesehen oder einen Blick auf das vertikale Lichtermeer der Skyline genossen. Doch wir flogen durch Allerweltsdunkel auf die Landebahn zu. Die Eule schlief immer noch tief und fest. Das Äffchen tupfte einen kleinen Schnitt am Finger

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