Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
Vom Netzwerk:
mit einer blutig gesprenkelten Serviette ab. »Prepare for landing!« Die Räder setzten auf und der Ruck, der durch das Flugzeug ging, war der selbstverständlich hingenommene Weckruck der Vielflieger. Überall wurde sich gestreckt und gedehnt. Selbst wenn man von Frankfurt nach New York fliegt, wurde mir klar, ist man noch lange kein Reisender. Selbst wenn man todesmutig in einer Zaubermaschine aus Blech und Eisen durch Zeitzonen rast, ist man umgeben von Pendlern.
    »Thank you for flying TWA , Sir!« Ich machte mich auf die Suche nach meinem Anschlussflug nach Denver. Der Flughafengang war so lang, dass ich meinte, die Krümmung der Erdoberfläche zu sehen. Meine Müdigkeit machte mich völlig gefühllos und ich verirrte mich. Durch eine Fensterfront sah ich das Rollfeld und darauf absonderliche Mondfahrzeuge herumkurven. Da beobachtete ich, wie von einem völlig überladenen Gepäckwagen zwei Koffer hinunterfielen. Der eine schlitterte über den Beton, der andere überschlug sich mehrmals und brach auseinander. Kleidungsstücke und Papiere flogen heraus. Der ganze Gepäckzug war einfach weitergefahren. Ich erkannte eine Hose, mehrere zerfledderte Bücher, einen zusammengerollten kurzen Teppich. Der nächste Gepäckzug kam heran. Bremste. Ein Mann stieg aus, warf den heilen Koffer auf die überfüllte Ladefläche und wühlte mit der Schuhspitze ohne einen Anflug von Scham im aufgebrochenen Koffer herum. Fand etwas und steckte es sich in die Tasche. Nahm eine Hose heraus und hielt sie sich vor seine eigene Hose. Den kaputten Koffer schob er mit dem Fuß zur Seite, gab ihm einen Tritt. Die Hose nahm er mit in sein Führerhäuschen und reihte sich wieder ein in das undurchschaubare Kreisen der Fahrzeuge. Wo wohl gerade meine beiden Reisetaschen waren? Hoffentlich, dachte ich, bleiben sie zusammen! Ich kam zu einem Passkontrollhäuschen, das von einer eindrucksvollen Schwarzen bewohnt wurde. Sie sah sich meinen Pass und mein Ticket an. »Young man, you are completely wrong!« Ich antwortete nur: »Okay!« Ich war außerstande, auf Englisch nach meinem Gate zu fragen, und schlug einfach eine neue Richtung ein. War ich eigentlich schon wieder spät dran? Ich stand unter einer meterhohen Anzeigetafel, auf der Flüge in alle Städte der Welt aufgelistet waren. Alle paar Momente fing die ganze Tafel zu tanzen an und auf Abertausenden flatternden Plättchen wirbelten Zahlen und Buchstaben durcheinander. Danach hatte jeder Flug, jede Stadt eine minimal höhere Position. Einen Flug nach Denver fand ich nicht. Auf einer Bank saß eine Frau mit einem ungefähr zehnjährigen Sohn, der seinen Kopf in ihren Schoß gelegt hatte. Ich erkannte sie wieder. Sie hatten im selben Flugzeug gesessen wie ich. Die Frau las in einem Buch mit deutschem Titel. Ich weiß ihn noch genau: »Nächstes Jahr in Jerusalem«. Ich ging zu ihnen: »Entschuldigen Sie bitte, ich glaub, ich hab mich total verlaufen. Könnten Sie mir vielleicht helfen?« Sie sah mich freundlich an, sprach leise, um ihren Sohn nicht zu wecken: »Dieser Flughafen ist riesig, was?« »Ja, allerdings.« »Wo musst du denn hin?« »Nach Denver.« »Zeig mir mal dein Ticket.« Ich holte den Brustbeutel heraus und gab es ihr. »Ah, schau hier. Flug 746, Gate neunzehn!« Während sie mit mir sprach, kraulte sie ihrem Sohn die Locken, die nicht ganz so störrisch zu sein schienen wie meine, liebevoll mit den Fingern. »Guck mal, da ist Gate vier. Kann nicht so weit sein.« Sie blickte in die andere Richtung. »Schau mal, dahinten, da geht eine Treppe runter. Da steht Gate achtzehn bis vierundzwanzig!« »Ah, das hatte ich nicht gesehen. Vielen Dank!« »Gern geschehen. Gute Reise.«
    Als ich die Abzweigung erreicht hatte, sah ich mich noch mal nach ihr um. Sie nickte und deutete dabei mit dem Finger in die Richtung der Treppe. Ich winkte und nickte zurück und fand kurze Zeit später mein Gate. Über dem Eingang blinkte: DELAY . Zweieinhalb Stunden Verspätung. Ich ging auf die Toilette. Die Klobrille war höher, das merkte ich sofort, das war angenehm, und auch etwas breiter. Meine Oberschenkel perfekt horizontal zum Boden. So gerade wie mit einer Wasserwaage austariert. »Gutes Klo«, dachte ich, »nicht wie bei mir zu Hause!« Die Seifenflüssigkeit, die wie ein bonbonfarbenes Ejakulat aus dem Spender spritzte, roch intensiv nach Rosen. Ich fühlte mich erschöpft, aber gut. Die freundliche Frau, das wohlproportionierte WC , meine duftenden Hände. Ich errechnete mir die

Weitere Kostenlose Bücher