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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Zunge kannte nach diesen zwei Wochen jeden einzelnen ihrer Zähne, die Wellungen ihres Gaumensegels, jede noch so abgelegene Mundhöhlennische. Meine Lippen waren vom vielen Küssen spröde und taub geworden und sosehr ich sie auch mochte, so aufregend ich es fand, es war schon befremdlich, ganze Nachmittage lang eine fremde Zunge im Mund zu haben. Nach zwei weiteren Wochen durfte ich ihren Rücken und die Schulterblätter streicheln. Mit den Fingerspitzen den gespannten Träger des BH s entlangfahren. Ich fing an zu rechnen. Wie weit würde ich in diesem Tempo bis zu meinem Abflug kommen? Wenn ich weiter so fleißig war, würde ich es haarscharf in ihre Unterhose schaffen. Ich wurde ungeduldig und schämte mich der Dinge, die ich mir wünschte. Als ich meine Hand über den Rücken, über ihre Rippen, zu ihrer Brust schob und mir ein Schauer durch den ganzen Leib fuhr, weil mein Zeigefinger an etwas Warmes, Rundes stieß, war es wieder so weit: »Eins nach dem anderen!« Ich wollte nicht: eins nach dem anderen! Ich wollte alles gleichzeitig. Sie ausziehen. Sie nackt umschlingen. Mit ihr schlafen. Sie dabei küssen und ihre großen Brüste halten und drücken! Und nicht: eins nach dem anderen!
    An unserem letzten Abend lagen wir in meinem Bett. In der Mitte des Zimmers standen die beiden Reisetaschen, darauf die Sporttasche und auf der Sporttasche die Anziehsachen, die ich für die Reise herausgesucht hatte. Ganz oben lag der Brustbeutel. »Würde es dich freuen, wenn ich heute Nacht bei dir bleibe?« »Was?« »Ja, hier bei dir. Ist ja unsere letzte Nacht. Ich mag nicht allein sein heute Nacht.« »Ja, klar.« Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. Unter der Bettdecke zogen wir uns nackt aus, lagen nebeneinander und hielten uns an den Händen. Sie atmete tief ein und aus wie jemand, der gleich zum Meeresgrund hinabtauchen würde. Ich rollte mich an ihre Seite und begann, ihren Hals zu küssen, die Schlüsselbeine, etwas tiefer. Ihr Atem ging schnell. Sie zog mich auf sich: »Sei vorsichtig, bitte.« Ich wäre gerne vorsichtig gewesen, aber nach zwei unbeholfenen Versuchen gaben wir auf, lagen da, Rücken an Rücken, nackt, und wachten genau so am Morgen wieder auf.
    Jetzt, auf dem Flughafen in New York, konnte ich nicht fassen, dass es erst eine Nacht her gewesen sein sollte. Verblasste diese Nacht dadurch so schnell, dass ich mich nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich von ihr entfernt hatte? Insgesamt trank ich so um die sechs Tassen Kaffee und bestieg aufgekratzt das Flugzeug. Der Anflug auf Denver bei Nacht war überwältigend. Das sieht ja aus, dachte ich, wie ein auseinandergeharktes Lagerfeuer, wie Tausende glühender Kohlestückchen! Während ich auf mein Gepäck wartete, sah ich mir noch mal das Foto meiner Gasteltern an. Ich wollte sie nicht übersehen. Drei Stunden war ich zu spät. Ob sie so lange auf mich gewartet hatten? Ich beobachtete die Menschen, die übermüdet am Förderband aufgereiht auf ihre Koffer warteten und sich, sobald sie ihr Gepäckstück entdeckten, in drängelnde zuschnappende Hyänen verwandelten. Als ich meine erste Tasche sah, am Gurt stolz geschmückt mit den Klebelaschen ihrer Reise, war ich selbst erstaunt, wie froh mich das machte. Am liebsten hätte ich laut gerufen: »Da! Dahinten! Die Tasche, die da kommt, ist meine!« Kurz darauf kam auch die andere aus dem Gepäckschlund gefahren. Etwas ramponiert, aber unversehrt. Ich lud alles auf einen Wagen und machte mich auf den Weg zum Ausgang.
    Das Erste, was mir an meinen Gasteltern auffiel, war, dass sie genauso aussahen wie auf dem Foto. Wie ausgestanzt und aufgestellt. Sie hatten nicht nur genau dieselben Frisuren, nein, auch der Anzug und das Wollkostüm sahen haargenau gleich aus. Auch sie erkannten mich sofort und kamen mir entgegen. Hazel umarmte mich und Stan gab mir die Hand und sagte: »Finally here. Quite a long way!« Hazel: »So good to have you here.« Zwei Frauen stellten sich zu uns, die sich ähnlich sahen, die gleiche pausbackige Fröhlichkeit hatten und sich als Stans Schwestern vorstellten. »Let’s go«, sagte Hazel, »it’s still a long way home!« Wir verließen den Flughafen. Stan sagte: »I’ll go and get the car.« Ich setzte mich neben die drei Frauen auf eine Bank. Sie hatten alle ihre Jacken übergezogen. Ich saß nur im Sweatshirt da. »Huuh …«, machte eine der Schwestern, rieb die Handflächen aneinander: »It’s cold out here.« Und sie drehte sich zu mir und fragte mich, ob mir in

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