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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Zuhauseuhrzeit. Oh nein, ich hatte vergessen, meine Mutter noch einmal anzurufen. Meiner Freundin hatte ich versprochen, mich zu melden, sobald ich in New York ankäme. »Ich stelle das Telefon in den Flur auf den Boden!«, hatte sie gesagt. »Weck mich ruhig.« Ich fand eine Telefonzelle. Kein Kleingeld. Nun war es also so weit. An einem verchromten Tresen bestellte ich mir einen Kaffee. Ich sagte tatsächlich: »Kaffee«, auf Deutsch, allerdings mit amerikanischem Akzent. Mehr würde ich in dieser Nacht noch nicht herausbekommen. Ich öffnete den Brustbeuteldruckknopf, nahm das grüne Bündel, zog einen Zehndollarschein heraus und bezahlte. Eigentlich mochte ich keinen Kaffee, trank zu Hause jeden Morgen einen großen Becher kalten Kakao, aber ich wollte wach sein. Der Kaffee war heiß, dünn und schmeckte köstlich. Der Filterkaffee, den mein Vater jeden Morgen trank, war ein schwarzbitteres Gebräu, das einem die Koffeinfaust in den Magen rammte. Dieser erste amerikanische Kaffee dagegen war eine wässrige Wohltat. Ich hatte mir vorgenommen, während der ganzen Reise so wenig wie möglich zu schlafen, um der Zeitumstellung ein Schnippchen zu schlagen. Also holte ich mir noch einen Kaffee. Ich wollte wieder mit einem Zehndollarschein bezahlen, um genügend Kleingeld für das Telefonat zu haben. Doch der Mann hinterm Tresen schenkte mir ein und sagte: »No Sir, we have refill.« Das passierte mir in den kommenden Wochen häufig, dass sich in einer Kleinigkeit die ganze Andersartigkeit meiner neuen Umgebung offenbarte. Dadurch, dass ich so willig und bereit war, die Dinge anders zu sehen, fiel es ihnen auch leicht, anders zu sein. Wobei – dieser Kaffee war ja wirklich vollkommen anders!
    Zuerst rief ich zu Hause an. Meine Mutter hob hellwach nach dem ersten Klingeln ab. »Ah, da bist du ja endlich! Alles gut gegangen?« Ihre Stimme klang ganz nah. »Ja, Mama, alles bestens.« »Wie war der Flug?« »Super.« Ich wollte es kurz machen, um genügend Kleingeld für das Telefonat mit meiner Freundin übrig zu haben. Ich sagte: »Du, Mama, ich glaub, jetzt ist gleich Schluss. Ich melde mich morgen.« »Och, schade, wirf doch noch was ein.« »Ja, warte mal, ich …« Ich drückte den Finger kurz auf die Unterbrechungstaste und das Gespräch war beendet. Ich nahm noch einen dritten Becher, wurde zunehmend munterer und wählte 0049462122789. Ich wollte schon wieder auflegen, als sich die schlaftrunkene Stimme meiner Freundin doch noch meldete. »Hallo, na?« Es klang genauso, als würde ich sie von zu Hause aus anrufen. Ich hätte mir gewünscht, dass sich durch Knistern und Rauschen meine bereits zurückgelegte Strecke bemerkbar machen würde. Das war doch enttäuschend! »Hallo.« »Wo bist du?« »Ich bin in New York. Mein Flug nach Denver hat zweieinhalb Stunden Verspätung.« »Du Armer.« »Hab ich dich geweckt?« »Ja klar, nicht schlimm.« Ich freute mich so sehr, sie zu hören, und doch tat mir ihre verschlafene Stimme auch weh. Obwohl ich all mein Wechselgeld eingeworfen hatte und die Anzeige noch mehr als vier Dollar anzeigte, sagte ich: »Schlaf weiter, ja. Wir hören uns morgen.« »Ja, mach ich. Pass gut auf dich auf!« Ich hängte ein und das Geld rutschte in eine tiefere Region des Münztelefons.
    Ich sah meine Freundin vor mir. Wir hatten nur eine einzige Nacht miteinander verbracht. Hin und wieder war sie nachmittags müde geworden. Ich mochte es, wenn sie verschlafen war, ihre Haare wild über ihrem Gesicht und dem Kissen lagen. Von dem Moment in der Eisdiele an, als sich unsere gekühlten Zungen berührt hatten – ich Malaga, sie Mango –, bis zur letzten Nacht vor meinem Abflug hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als mit ihr zu schlafen. Doch daraus wurde nichts. Die ersten zwei Wochen durfte ich sie nur küssen. Auf Spaziergängen, in ihrem oder meinem Zimmer auf dem Bett liegend, im Kino. Doch sobald ich auch nur versuchte, meine Hand unter ihr Sweatshirt zu schieben, sagte sie liebevoll: »Eins nach dem anderen!« Auf ihren Augenlidern hatte sie zwei kreisrunde Leberflecke. Das war es, was mich am See so irritiert hatte. Wenn sie blinzelte oder die Augen schloss, sahen mich die Leberfleckpupillen an. Wenn ich im Dunklen versuchte, ihre Augen zu erkennen, wusste ich oft nicht, ob sie mich anstarrte oder schlief. So stand ich unter ständiger Beobachtung und geriet durch meinen heranrasenden Abflugtermin nach Amerika in einen unguten Zustand aus angestautem Verlangen und Zeitnot. Meine

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