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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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eingeklemmte Bettdecke jetzt nicht heraus, sondern legst dich flach auf den Rücken, akzeptierst die Schlafgepflogenheiten eines anderen Volkes, beginnst auch nachts ein neues Leben und schläfst fortan wie aufgebahrt. Ein schwimmender Toter, eine amerikanische Wasserleiche. Nach zehn Minuten hielt ich es nicht mehr aus und strampelte mit einer kraftvollen Beinschere die Decke aus ihrer beengenden Rundumverankerung. Ah, endlich lag mein Bein wieder an der Luft. Was wohl gerade meine Freundin machte?
    Irgendwann schlief ich ein, doch da wurde ich auch schon wieder geweckt. Geweckt von einem angenehmen Gefühl. Ich wurde gestreichelt von einer flüssigen Hand. Etwas rann mir warm über die Wangen, den Mund und den Hals. Ich lag noch einen Moment in der völlig ungewohnten Schwärze der Laramier Nacht, tastete mit den Fingern über mein Gesicht. Es war nass. Mit der Zunge fuhr ich über meine Unterlippe und schmeckte Blut. Ich brauchte einige Zeit, bis ich die in der Finsternis hängende Kordel meiner Nachttischlampe fand. Beim Versuch, sie zu ziehen, glitschte sie mir durch die Hand. Ich hielt sie fester und machte die Lampe an. Meine Hand war voller Blut. Ich wusste nicht, wo es herkam. Ich hatte keine Schmerzen. Das Pferd auf meinem Kopfkissen stand bis zum Bauch in dunklem Blut und auch die Rocky-Mountains-Bettwäsche war vollgesogen. Vorsichtig schlug ich die Decke zurück und setzte mich auf. Wie aus einer freundlichen Quelle sprudelte mir im Takt meines erschrockenen Herzens das Blut aus der Nase. Aus beiden Nasenlöchern. Pulsierend und stetig. Ich ging in mein Badezimmer – zum ersten Mal ein eigenes Badezimmer, endlich keine blöde Witze reißenden Brüder vor der Tür, die riefen: »Lieber Gott, mach, dass er nicht Hand an sich legt!« oder »Oh, oh, jetzt wienert er seinen Kaventsmann« – und nahm mir ein Handtuch. Auch auf dem Handtuch waren bewaldete Berge, ein See und ein Schwarm Graugänse, die Hälse gestreckt vor einer sehr gelben Frotteesonne. Ich sah mein Gesicht im Spiegel. Teils schwarzrot verkrustet, teils blutüberströmt. Ich stopfte mir Klopapier in die Nasenlöcher. Die Rolle steckte in einem weit geöffneten wiehernden Porzellanpferdemaul. Ich ging zurück ins Schlafzimmer. Das Bett sah aus wie nach einem Kapitalverbrechen – als wäre der so voller Hoffnung angereiste deutsche Austauschschüler gleich in der ersten Nacht von einem aus der unendlichen Weite der Prärie durchs Fenster geschlüpften psychopathischen Axtmörder in seinem Wasserbett abgeschlachtet worden. Es war vier Uhr nachts. Bei uns zu Hause war es jetzt elf Uhr morgens. Ich zog den blutnassen Bergbezug von der Daunendecke und das triefende Pferd vom Kopfkissen. Ich warf alles in die Badewanne und ließ kaltes Wasser ein. Das Klopapier in meinen Nasenlöchern war vollgesogen und tropfte. Ich zog es über dem Waschbecken heraus und aus meiner Nase schoss beidseitig hellrotes Blut, vermischt mit dunklen geronnenen Blutpfropfen. Ich stopfte mir frisches Klopapier in die Nase, holte mir mein Wörterbuch und sah ›Nasenbluten‹ nach.
    Ich ging zur Schlafzimmertür meiner Gasteltern und klopfte an. Nach mehrmaligem Klopfen rief meine Gastmutter »Yes?«. Ich hatte das eben erst nachgeschlagene Wort schon wieder vergessen und setzte zu einer Antwort an. Diese Antwort blieb das ganze Jahr ein von Stan und Hazel immer wieder begeistert zitierter Satz, der stets zu großem Gelächter führte. Das ganze Jahr hindurch traf ich Leute, die ich noch nie gesehen hatte und die mich begrüßten mit: »Hi, bist du nicht der Austauschschüler, der in seiner ersten Nacht das ganze Zimmer vollgeblutet hat und dann wie im Horrorfilm zur Tür seiner Gasteltern geschlichen ist, dreimal, mit viel Zeit zwischen den einzelnen Schlägen, wie der Tod angeklopft und gesagt hat: …« Ich klopfte wieder und Hazel rief: »What do you want?« Ich öffnete die Tür und sah sie schemenhaft in ihren Betten liegen. Ja, und dann sagte ich mit nasalem Ton meinen Satz: »I have a problem, äh, called blood!« Das Licht ging an und beide warfen sich, die Augen weit aufgerissen, in ihrer ebenfalls mit Naturmotiven bedruckten Bettwäsche – ein Wasserfall und mehrere Büffel in einer Ebene – panisch zurück. Ich erinnere mich noch daran, dass diese Büffelherde durch Stan und Hazels Schreck wie nach dem Schuss eines Jägers in Richtung ihrer Köpfe loszupreschen schien, da sie sich ruckartig die Decken hochgezogen hatten. Mehrmals sagte ich: »My nose. I am so

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