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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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»Please, please, tell Beth I love her!« Würde mir das auch gelingen? Würde auch mich diese Sprache, diese Art zu sprechen, verwandeln? Verwandeln in einen breitbeinig gehenden Kerl, der die Einsamkeit liebt und sich Kaffee auf dem Lagerfeuer kocht? In jemanden, der mit tief in die Stirn gezogenem Cowboyhut einen staubigen Platz überquert? Unendlich entspannt, da er weiß, dass er schneller zieht als jeder andere? Stand mir so eine Verwandlung bevor? Ich hatte nichts dagegen. Oder würde man mir hier meine Sprache klauen, war ich hier, um synchronisiert zu werden?
    Besonders gern sah ich die lustigen Werbungen: Eine Frau brät im sechsten Stock eines Hauses Fischstäbchen. Ich verstand nicht ganz, was sie sagte: »Glaubst du auch, dass deine Kinder Fisch nicht mögen? Das ist schade! Denn Fisch ist so gesund! Aber Fisch ist nicht gleich Fisch. Seit ich ›Crispy Fischsticks‹ brate, lieben meine Kinder Fisch!« – so in der Art. Dann geht sie zum Fenster, öffnet es und hält ein Fischstäbchen hinaus. Weit unter dem Fenster sieht man einen Jungen in einem Swimmingpool. Plötzlich schnellt der Junge wie ein Delfin aus dem Wasser, bis hinauf in den sechsten Stock, und schnappt seiner Mutter das Fischstäbchen aus der Hand. Oder: Ein Waldarbeiter wirft seine Motorsäge an und sucht sich im Wald einen Baum aus. Der Stamm ist unglaublich dick. Er hat einen Keil herausgeschnitten. Der Baum sieht Furcht einflößend instabil aus, fällt aber nicht. Der Waldarbeiter macht die Säge aus, öffnet sich ein Bier, trinkt es genussvoll aus. Dann zieht er sich den Helm ab, die Jacke aus und legt sich in den Schatten des angesägten Baumes und schläft ein. Die Sonne geht unter. Er wacht auf, zieht sich wieder an, tippt mit dem Zeigefinger gegen den Baum und geht. Der Baum schwankt und stürzt krachend und splitternd zu Boden. Genau auf die Stelle, an der der Mann sein Schläfchen gemacht hat. Eine tiefe Männerstimme raunt: »Trust yourself but also trust us – Wyoming insurance company!«
    Gleich am Morgen nach meiner Blutnacht hatte mir Stan den Garten gezeigt. Es war der einzig grüne Flecken in der ganzen Siedlung. Eine grüne Oase inmitten der staubigen Prärie. Von morgens bis abends krochen ferngesteuerte Wassersprenger durch den Garten. Jeder dieser Wassersprenger, zehn waren es bestimmt, hatte irgendwo im Garten versteckt seinen eigenen Unterstand. Diese kleinen Plastikgaragen waren gut verborgen unter üppigen Büschen oder hinter Baumstämmen. Das war ein absonderliches Bild. Die über den Rasen kreuz und quer, hin und her kriechenden Regenroboterchen. Auf jedem Sprenger drehte sich ein mit Düsen versehener Metallstab um sich selbst und ließ das Wasser in einem spiralartigen Wirbel auf das raspelkurze Gras herniederregnen. Ein plätscherndes Wasserballett. Unter dem Gewicht der Wasserschläuche, die die Rasensprenger hinter sich herzogen, gaben diese ein wimmerndes Ächzen von sich. Wenn es zu Kollisionen kam, sich die Sprenger verhedderten, umfielen, hilflos mit blockierten Düsen wie sterbende Käfer auf dem Rücken lagen, musste ich die Schläuche entknäulen und sie zurück auf ihre Umlaufbahnen setzen. Wie befreit mit neuem Schwung zuckelten sie davon. Alle vier Tage wurde der Rasen gemäht. Dieser Rasen war keine saftige Wiese, sondern ein getrimmter, unnatürlich wirkender, federnder Teppich. Er war Stans ganzer Stolz. Wenn der Pudel auf den Rasen kackte, war der Haufen die höchste Erhebung im gesamten Garten, und die Hundescheiße sah aus wie auf einem giftgrünen Tablett serviert. Der Rasenmäher, mit dem dieses erstklassige Ergebnis erzielt wurde, hatte keine Räder. Es war ein Luftkissenmäher, der mit minimalem Kraftaufwand über die Grünfläche glitt. Damit zu mähen machte mir Spaß.
    Direkt über dem Schreibtisch hatte ich die Bilder meiner Familie und meiner Freundin mit bunten Heftzwecken an die Holzwand gepinnt. Ich hatte meiner Freundin versprochen, viel zu schreiben, sie detailliert über meine Reise, meine Ankunft und meine ersten Tage zu informieren. Und ich war mir sicher gewesen, dies auch zu wollen und zu tun. Doch jetzt saß ich ratlos vor dem leichten blauen Luftpostpapier, das wie Butterbrotpapier knisterte, und hatte nicht die geringste Lust, auch nur ein Wort an sie zu schreiben. Sowohl in meinem Bad als auch im Schlafzimmer hingen große Ventilatoren an der Decke. Nie habe ich herausgefunden, wofür eigentlich. Während des ganzen Aufenthaltes sollte es kein einziges Mal so warm

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