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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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schlängelte sich die Wirbelsäule hinauf und ließ meinen Kopf leicht nicken, wurde vom Kopfende zurückgeworfen und plätscherte unter mir zurück zum Fußende. Ich stand auf und sah mir den Schalter an. Die Temperatur stellte ich auf Maximum. Ganz allmählich wurde es von unten warm. Ich sollte besser endlich schlafen, dachte ich, aber ich war nicht müde. Ich lag da, auf diesem heißen Vierquadratmetermeer, und ließ mich treiben. Der Unterschied hätte nicht größer sein können. Aus einem schmalen, fest in der elterlichen Erde verankerten deutschen Bett auf dieses schwankende, bis in die Knochen hinein wärmende ankergelichtete Ponton. Zu Hause würde es gleich Frühstück geben und mein Vater wäre wie jeden Morgen stolz auf seinen von der Zeitschaltuhr vorgekochten Kaffee. Frühstück? Ich rechnete. Nein, es war ja schon Mittag vorbei. Ich holte zwei Wecker, die zum Schutz in Handtücher eingewickelt waren, aus einer Reisetasche und stellte sie auf meinen Nachttisch. Das war die Idee meines Vaters gewesen. Den einen mit der zurückgelassenen, den anderen mit der neuen Zeit. Wenn ich ganz still lag, konnte ich mir die Position meines verlassenen Bettes so genau vorstellen, dass ich mich plötzlich tatsächlich dort befand. Dieses Spiel, mir in einem Bett liegend mit geschlossenen Augen ein längst vergangenes Zimmer zu vergegenwärtigen, spiele ich bis heute. Es ist wie das Heraufbeschwören einer verinnerlichten Geometrie. Es klappt nicht immer, aber wenn es klappt und sich der verlassene oder verloren gegangene Schlafplatz schlagartig wieder herstellt, sich in seiner exakten dreidimensionalen Eigenart als vertrauter Raum zusammensetzt, ist es ein erstaunlich reales Erlebnis. Eine Zeit lang, denn es ist auch eine Sache des Trainings, der Beschwörungskondition, konnte ich mich wie in einem zügigen inneren Diavortrag durch bis zu zehn Zimmer klicken, in bis zu zehn vergangene Schlafpositionen zurückkriechen. Da fliegen dann die Fenster und Vorhänge, die Tür, der Schrank und der oder die Stühle um einen herum, und fertig ist das nächste innere Schlafzimmer.
    In den ersten Tagen habe ich dieses Wasserbett sehr genossen. Doch dann wollte ich endlich wieder still liegen. Das leichte Unwohlsein hatte ich anfänglich der Reiseaufregung zugeschrieben. Aber der wahre Grund war dieses Wasserbett. Mir war immer etwas schlecht, wenn ich aufwachte. Und die ersten Schritte waren wie nach einer langen Schiffsreise jeden Morgen etwas schwankend. Ich fing an, gegen das Wabern zu kämpfen. Doch je mehr ich mich hin und her warf, mit der Hand auf eine Welle schlug, desto stärker wurde der Seegang. Ich schwitzte, stellte die Wasserheizung aus und kämpfte mit den bedrohlich über mir zusammenschlagenden Kissen. Nach solchen Stürmen war ich wie seekrank. Aber nach ein paar weiteren Wochen hatte ich mich an das Bett endgültig gewöhnt und auch meine, ja, wie soll ich das nennen, meine nächtlichen Fantasien hat es sehr angeregt. Ich entwickelte eine Technik, bei der ich die Hand ganz still hielt und mich nur durch Wellen in dieser Hand bewegte. Die beiden Wecker zeigten mir die verschiedenen Zeiten. Die alte und die neue. Meistens war ich wach, wenn meine Eltern schliefen. Das gefiel mir. Der Großteil meines Lebens fand nicht nur außerhalb ihres direkten Einflusses statt, sondern sogar außerhalb ihrer Wachheit. Ein Jahr lang würde ich alles tun können, wozu ich Lust hatte, da sie nicht nur nicht da waren, sondern sogar schliefen. Ich muss allerdings dazu sagen, dass ich auch zu Hause machen durfte, was ich wollte. Dass ich nicht vor ihnen geflohen, keiner durch Lieblosigkeit oder Repressalien verdunkelten Welt entkommen war, und sie sehr vermisste. Doch die Vorstellung, für ein Jahr räumlich und zeitlich außerhalb ihrer direkten Liebe zu verbringen, war eine befreiende Vorstellung. Ich stellte sie mir sogar strenger vor, als sie waren, um der gewonnenen Freiheit mehr Würze zu verleihen.
    Im Haus war es jetzt ganz still geworden. Durch die dünnen Holzwände hörte ich jemanden schnarchen. Bestimmt eine der Schwestern. Ich zog mich aus und kroch ins Wasserbett. Die Bettdecke war rundherum fest unter der Matratze eingeklemmt. Ich lag eingezwängt wie in einem Schlafsack. Noch nie hatte ich so einschlafen können. Immer musste ich, egal wie kalt es war, ein Bein über der Bettdecke haben. Sollte ich, um ein neues Leben zu beginnen, auch beim Schlafen anders liegen? Ja, dachte ich, du wühlst diese sorgfältig

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