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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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kamen zurück und wir fuhren weiter. Jeder bekam seine Tüte auf den Schoß. In den Türen und am Armaturenbrett gab es kleine Tabletts und Halterungen für die Pappbecher. Genau wie im Flugzeug, dachte ich. Aber diese Tabletts waren viel schöner. Aus poliertem, mit Maserungen durchzogenem Holz. Natürlich hatte ich schon mal einen Hamburger oder einen Doppelcheeseburger von McDonald’s gegessen, aber nicht oft, und so gut wie dieser hatte mir noch nie einer geschmeckt. Stan legte eine Kassette ein: Country Music. Eine brüchige Frauenstimme sang. Ich verstand einzelne Worte: »… bluuuuee mountains … oh thiiiis road … coming hooome …« Hinter mir hörte ich die Schwestern schmatzen. Die eine hielt Stan, ohne dass er es merkte, zwei Pommes wie Teufelshörner an den Kopf. Sie kicherten. Hazel neben mir aß, trank und sang hin und wieder eine Zeile mit. Es kam ein Lied, das jeder im Auto zu kennen und zu mögen schien. Beim Refrain stimmten alle mit ein und Stan fuhr zum Spaß ein paar Schlangenlinien im Takt der Melodie. Es roch gut im Auto. Nach den Schwestern, die sich entweder einparfümiert oder auf der Toilette mit einer intensiven Seife gewaschen hatten, und nach den Burgern, dem geschmolzenen Käse und den salzigen Pommes. Hinter mir hörte ich Pustgeräusche. Ich drehte mich um und sah, wie beide Schwestern Luftballons aufbliesen, ihre knallroten Köpfe mit jedem Atemstoß ein wenig mehr hinter den sich blähenden Ballons verschwanden. Wo hatten sie diese Ballons her? Sie versuchten, sie zuzuknoten, doch einer der Ballons sauste pupsend durchs Auto an Stans Kopf vorbei. Hazel und die Schwestern warfen sich vor Lachen auf den Sofas hin und her. Auch ich blies den Luftballon auf, den ich auf dem Boden meiner Papiertüte zwischen kalten Pommes entdeckt hatte, und knotete ihn zu. Die beiden Ballons wurden mit den Fingern durch das Auto geschnippt, und Stan sagte mehrmals leise »Jesus!«. Das ist hier ja wie auf einem Kindergeburtstag, dachte ich. Ob die wohl immer so sind? Dass Stan so gelassen blieb, erstaunte mich.
    Ich hatte einmal bei einem Ausflug mit meinen Großeltern auf der Rückbank eine Butterbrottüte aufgeblasen und zerknallt. Ich war selbst erschrocken, wie trocken der Tütenschuss die Stille im Auto zerrissen hatte. Mein Großvater fuhr an den Seitenstreifen, stieg aus, öffnete meine Tür, packte mich am Handgelenk und zog mich aus dem Auto: »Das machst du nie wieder! Haben wir uns verstanden?« »Ja.« »Nie, nie wieder. Wenn du so etwas noch ein einziges Mal tust, während ich fahre, dann Gnade dir Gott!«
    Nachdem alle aufgegessen hatten, sammelte Hazel den Müll in einem Plastiksack ein, den wir auf dem nächsten Parkplatz in eine Tonne warfen – wieder ohne auszusteigen. Dann wurde es still im Wagen. Die Schwestern hatten es sich gemütlich gemacht, ihre Schuhe ausgezogen und sich überraschend gelenkig auf dem Rücksofa zusammengerollt. Hazel legte sich ein Kissen unter den Kopf und schlief ein. Stan sagte: »Just the two of us!« Ich wollte auch etwas sagen, überlegte lange und entschied mich für: »The stars look the same like at home!« Stan nickte mir zu. »Oh yes, they are the same almost everywhere.« Ich hatte es erst gar nicht bemerkt, aber nach einer weiteren halben Stunde ging es stetig bergauf und Nebelschwaden waberten über die Fahrbahn. Hazel schlief tief und fest, auch den Schwestern hingen ihre fleischigen Wangen schlaff auf das Sofapolster. Der Nebel wurde dichter, die Sicht immer schlechter. Stan richtete sich auf, drückte den Rücken durch, das Gesicht näher an der Windschutzscheibe. Der Highway wurde steiler. Hin und wieder tauchten gespenstisch Scheinwerfer auf der gegenüberliegenden Fahrbahn auf, und ein paarmal wurden wir überholt. Stan fluchte leise: »These folks are crazy!« Ich überlegte lange das englische Wort für Nebel, aber es fiel mir nicht ein, und »white air« war zu unsinnig. Hatte ich nicht in der Schule etwas lesen müssen, wo Nebel vorkam? Ich versuchte mich zu erinnern. Magischer Nebel? Menschen gehen durch den Nebel und landen wo? Fahren mit dem Schiff durch Nebelbänke? Wo kamen sie hin? Was lag hinter dem Nebel? Ein anderes Land? Ging es um eine Reise ins Jenseits? Glitten sie durch die Zeit? Ich wusste es nicht mehr. Stan machte das Radio aus und hatte Schweißtropfen auf der Stirn. Doch genau so, wie der Nebel gekommen war, verschwand er wieder. Wie in einem Zaubertrick fuhren wir in Sekundenschnelle aus der milchigen Brühe

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