Alle Toten fliegen hoch: Amerika
alles meinen Eltern zu erzählen. Unfassbar, dachte ich, welche Konsequenzen ein Spaziergang am Meer haben kann! Über den Wolken stand satt und orangerot die Sonne. Ob sie auf- oder unterging? Ich hatte keine Ahnung.
In der Highschool wusste fast niemand von dem Unfall. Ich hielt mein Unglück geheim. Außer meiner Gastfamilie hatte niemand Mitleid mit mir. Das tat mir gut. Ich lebte einfach so weiter wie vor dem Unfall. An meinen Bruder dachte ich selten. Eigentlich immer nur nach den Sonntagstelefonaten mit meinen Eltern. In einem Schulaufsatz, den ich auf Englisch über meine Familie schreiben musste, lebte mein Bruder und studierte Medizin in Gießen. Noch heute antworte ich auf die Frage, ob ich Brüder hätte, mit »Ja, zwei«. Und wenn mich jemand fragt, was sie machen, sage ich, dass der eine Journalist und der andere Arzt geworden ist.
Ich lernte ein Mädchen kennen, obwohl ja in Deutschland auch noch jemand auf mich wartete. Ich traf sie auf einer wilden sogenannten »Whirlpoolparty«. Bei solchen Partys werden die Whirlpools auf Pick-up-Trucks in die Berge gebracht. Bestimmt zwanzig Whirlpools standen in einem großen Kreis auf einer Lichtung. Drum herum die Pick-up-Trucks mit bellenden Hunden auf den Ladeflächen. Zuerst wurde Schnee in die Whirlpools geschaufelt. Mehrere große Generatoren heizten das Wasser in den Becken. In der Mitte brannte ein riesiges Lagerfeuer. Überall standen große Barbecuegrills. Es war mitten in den Bergen. Schnee auf den Bäumen. Sternklarer Himmel. Erst wurde gegessen, getrunken und getanzt, und als der Schnee geschmolzen, das Wasser in den Whirlpools heiß genug war, zogen sich alle aus und legten sich hinein. Zuerst noch mit Unterhosen und die meisten Mädchen mit T-Shirts. Doch als alle immer betrunkener wurden – das bevorzugte Getränk war ein süßer Erdbeerschnaps –, zogen sich viele ganz nackt aus. Wenn sich der Dampf für Momente lichtete und verwehte, sah man sich küssende Paare im blubbernden Wasser. Wir hörten Wölfe heulen. Die Hunde wurden unruhig und winselten. Einige Mädchen schrien und ein massiger Junge mit einem Cowboyhut rannte gut durchblutet durch den Schnee, holte aus seinem Pick-up ein Gewehr und feuerte in den Wald. Alle wurden immer besoffener. In jedem der zwanzig Becken saßen vier bis fünf Nackte. Es gab Paare, die sich einseiften oder sich küssten und ihre Hände unter Wasser bewegten. Hintern tauchten auf, Beine ragten über die Whirlpoolränder. Einige aßen große Steaks mit den Händen und warfen die abgenagten Knochen lachend nach den Liebespaaren. Als alle satt, zufrieden und volltrunken waren, wurde die Musik ausgemacht, die Generatoren abgestellt. Ich hörte eine noch nie da gewesene Stille.
Da lag ich, mitten in den Rocky Mountains, auf einem Hochplateau. Und tatsächlich auch ich mit einem Mädchen im Arm. Sie war plötzlich da gewesen. Erst ihre Hände an meinem Rücken. Ihr Gesicht verschwommen im Dampf. Ich hielt ihren Po fest. Sie stank leicht nach diesem süßlichen Erdbeerschnaps, trieb mir auf den Schoß. Saß auf mir und wir küssten uns. Wir schliefen miteinander und ich wusste nicht einmal, wie sie hieß. Ich weiß noch, wie großartig ich das fand, dass ich es so weit an Verwegenheit gebracht hatte, mit ihr zu schlafen, ohne ihren Namen zu kennen. Und es hatten mir sogar andere dabei zugesehen. Steve aus dem Tennisteam aß, nur eine Armlänge entfernt, ein verkohltes Hüftsteak und nickte mir aufmunternd zu. Sie hatte lange nasse Haare, die jetzt gefroren waren und hell klirrten, wenn wir uns küssten. Wieder hörte man lang gezogen einen Wolf heulen.
Der Cowboy, der in den Wald geschossen hatte, war einer der Stars des Laramier Ringerteams. Innerhalb dieses Teams gab es eine kleine Gruppe, deren Mitglieder nicht nur über und über tätowiert waren, sondern auch auf dem Hintern ein Brandzeichen hatten. Ein richtiges Brandzeichen, so wie es Kälber oder Pferde bekommen. Diese Gruppe galt als gefährlich, war gefürchtet und bewundert. Sie waren so alt wie ich. Siebzehn, vielleicht achtzehn, und trugen immer Cowboyhüte. Selbst im Unterricht. Die Lehrer hatten es längst aufgegeben, sie zum Abnehmen der Hüte zu bewegen. Sie fuhren die größten Pick-up-Trucks und prügelten sich gerne auch ohne jeden Grund. Ich hatte einmal neben einem von ihnen auf dem Klo gesessen. Auf den Schultoiletten gab es keine Trennwände. Fünfzehn Toiletten standen einfach in einem großen gekachelten Raum. Ich ekelte mich vor dieser
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