Alle Toten fliegen hoch: Amerika
sich eine buschige Fellmütze auf und wir gingen Hand in Hand, die vom warmen Wasser völlig verschrumpelten Finger fest ineinander verhakt, durch den Schnee. Ich sank ein, kam kaum voran. Maureen dagegen war leicht und lief über den Schnee. Sie erklärte mir, dass ich nicht stehen bleiben dürfe. Ich müsse, sagte sie, bei jedem Schritt schon gleich den nächsten machen. Ich versuchte es, und tatsächlich, es funktionierte. So eilten wir beide leichtfüßig über die gefrorene Oberfläche der Schneelandschaft. Doch sobald wir stehen blieben und uns küssten, knirschte es, und wir brachen ein. Nein, selbst wenn ich es versucht hätte, ich konnte nicht an meinen toten Bruder denken. Ich wollte nicht trauern.
Am darauffolgenden Montag suchte ich Maureen in jeder Pause. Ich schlenderte durch die von Schließfächern gesäumten Gänge der Highschool. In der Kantine kam ein stark geschminktes Mädchen mit einer vor Haarspray erstarrten Betonfrisur zu mir an den Tisch. »Hi, what’s up?« Erst an der Stimme erkannte ich sie. »Maureen?« »Think so.« »Hi.« »Something wrong?« »Ah, you look so äh different.« »What do you mean?« »Your hair is … hey, hello.« Sie trug ein grob kariertes, flauschig aussehendes Holzfällerhemd, eine hautenge Jeans und Cowboystiefel. Ich konnte den Blick nicht von ihrer Frisur lassen. Wie auf blonden Bugwellen schob sich ihr Gesicht durch diese fixierte Haarpracht hindurch. Im Whirlpool hatten ihr die Haare nass am Kopf geklebt und ihr offenes Gesicht hatte mir gut gefallen. Meine Locken, damit war ich von meinen Brüdern bei jedem Bad im Meer geärgert worden, blieben sogar kraus, wenn sie nass waren. »Du bist eine Ente«, hatte mein mittlerer Bruder zu mir gesagt, »du hast Drüsen auf dem Kopf und fettest dein Haar so ein wie eine Ente ihr Gefieder.« Maureen trank aus einem Pappbecher. Am Strohhalm hinterließ sie schmierige Lippenstiftspuren. Ihre Schminke war so dick aufgetragen, dass ich den Strich der Pinselborsten sehen konnte, und auf der Stirn erkannte ich feine Risse wie auf einem alten Gemälde. Die Wimpern waren von schwarzer Wimperntusche verklebt. Sie saß vor mir, lächelte und schien auf etwas zu warten. Sie fragte mich: »Where are you from?« »I’m from Germany.« »Wow! Cool!« Sie trank den Becher aus, schlürfte den Rest geräuschvoll mit dem Strohhalm auf. »So then«, sie rückte den Stuhl zurück, »see you!« »Yes, see you.« Irgendetwas lief gerade total schief. Sie stand vorm Tisch, wippte auf den Spitzen der Cowboystiefel und drehte sich langsam weg. »Maureen?« Sie schwenkte zurück: »Yes?« »Äh, I … would you like to äh … meet me again?« Sie strahlte: »Hey, German, are you asking me for a date?« Ich nickte: »Yes, I think so!« Maureen klatschte in die Hände. »Yesss!« Doch dann sah sie mich an und sagte: »No! I’m sorry!« Sie beugte sich zu mir über den Tisch und flüsterte: »But try again soon!« Sie gab mir einen Kuss auf den Hals. Es war eigentlich kein Kuss, eher ein blitzschnelles Festsaugen. Sie balancierte ihre getürmte Haarhaube zum Kantinenausgang, drehte sich zu mir um, winkte sehr bezaubernd und ging.
Bill und Brian kümmerten sich nach meiner zweiten Ankunft rührend um mich. Mehrmals hatte mich Bill in seinem schäbigen Auto abgeholt und war mit mir zu einer großen Wiese gefahren, um mir beizubringen, wie man einen Baseball wirft und fängt. Wir standen weit voneinander entfernt und schleuderten den steinharten Ball hin und her. Hin und her. Ein paarmal rief Bill: »Nice catch!« Mehr nicht. Die Gleichförmigkeit der Bewegungsabläufe, das satte Ploppgeräusch, wenn es gelang, den Ball perfekt zu fangen, und die kühle Luft taten mir gut. Danach fuhren wir Burger und Pommes essen. Bill bestellte sich drei Hamburger, packte sie aus und legte sie nebeneinander vor sich aufs Tablett. Er klappte die Hamburger auf, stapelte sich alle drei Hackfleischscheiben auf einen einzigen Burger und klappte eine Brötchenhälfte drauf. Die anderen warf er weg. Er sagte zu mir: »It’s called: Bills Big Burger!« Wir tranken Mountain Dew, eine zuckersüße Limonade, die stark koffeinhaltig ist. Das erfuhr ich erst Monate später. Hin und wieder lag ich hellwach in meinem Wasserbett, konnte nicht einschlafen und wusste nicht warum. Die Zeitumstellung, dachte ich, kann das doch nun wirklich nicht mehr sein. Dass der halbe Liter Mountain Dew, den ich vor einer Stunde getrunken hatte, schuld daran war, kam mir nicht in den Sinn.
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