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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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unbeeindruckt, schien sich zu langweilen und sprang am Ende der Heldenepen stets als Erster auf, griff sich den Ball und dribbelte ihn in vollem Lauf akrobatisch zwischen den Beinen hindurch. Später in der Saison kam es hin und wieder vor, dass Coach Carter von Vietnam sprach, seltsame Bezüge zwischen unserer knappen Niederlage und der Niederlage der US Army herstellte. Mir zeigte er in einer Trainingspause, wie man mit leicht gebogenem Zeige- und Mittelfinger jemandem in die Augen stechen und so durch eine Schleuderbewegung das Genick brechen kann.
    Nach der Schule begann der Nachmittag mit einer einstündigen Trainingseinheit, in der es um theoretische und taktische Dinge ging. Mit Kreide malte Coach Carter Laufwege und Spielzüge auf eine Tafel. Die Spielzüge hatten Nummern, die der Spielführer vor dem Angriff ansagte. Dann ging es in die Folterkammer, The Torture Chamber, gegenüber der Zuschauertribüne, in der dicht gedrängt eine unüberschaubare Anzahl von Geräten stand. Überall wurden Gewichte gestemmt, mit den Füßen hochgedrückt, mit den Armen gewuchtet. In den unmöglichsten Positionen zogen Hände an Metallseilen und Schultern pressten sich gegen gepolsterte Bügel. Da die Geräte eng beieinanderstanden, sah es so aus, als wäre es eine einzige Maschine, in der eingeklemmte menschliche Körper um ihr Überleben kämpften. Jeder von uns bekam einen speziell auf ihn abgestimmten Plan, um individuell seine defizitären Muskelbereiche zu stählen.
    Bei mir ging es vor allem um den Brust- und Rückenbereich. Ich bräuchte, so der Coach, auf dem Platz mehr Präsenz. Er hielt mir einen Vortrag darüber, dass ein Gegenspieler sofort wittern würde, ob ich ängstlich wäre oder nicht. Ich musste mich an eine Linie stellen. »Don’t move! This is your territory!« Ein Spieler nach dem anderen musste auf mich zurennen und erst im letzten, ja allerletzten Moment ausweichen. Wenn ich die Augen schloss, brüllte Carter: »Keep your eyes open! Watch the danger coming and don’t move. Face it!« Benny Wisemans Windhauch streifte mein Ohr. Ich blinzelte und zuckte zusammen, riss zur Abwehr die Arme hoch, versuchte mich tot zu stellen. Doch es gelang mir einfach nicht, meinen Fluchtreflex zu beherrschen. Coach Carter brach den Test ab. Der Beweis war erbracht. Ich war ein Angsthase. Zu allem Überfluss musste ich dann noch auf Benny Wiseman zurennen. Ich raste los und sah seine stolzen Augen. Die Hände hatte er locker wie ein älterer Herr beim Promenadenspaziergang auf dem Rücken ineinandergelegt. Sosehr ich es auch versuchte, je näher ich Benny kam, desto langsamer wurde ich. Drei, vier Meter vor ihm prallte ich gegen die Mauer seines Charismas, drehte ab und taumelte als feige Motte ins Nichts. Ich bräuchte, so Carter, mehr Masse. Er tippte mir mit dem Finger auf mein Brustbein: »Here, right here is your weak spot.« Im Abendtraining wurden die Spielzüge einstudiert, uns eingetrichtert, bis wir, sobald die jeweilige Zahl gerufen wurde, wie Lipizzaner unsere Wege abgaloppierten. Die Spielzüge gingen mir so in Fleisch und Blut über, dass ich nachts aufwachte davon, dass ich in meinem Bett liegend mit den Füßen zuckte und den Spielzug Number nine absolvierte. Zu einer Trainingseinheit brachte Coach Carter ein Gewehr mit. Er zerlegte es und breitete die Einzelteile vor sich auf dem Boden aus. Jerry durfte ihm die Augen verbinden. In sieben Sekunden baute er das Gewehr wieder zusammen. Kein Fehlgriff, keine einzige überflüssige Bewegung. Er streifte sich die Augenbinde ab und sah uns an: »Every single one of you must know exactly what he’s supposed to do.«
    Wenn das Training um acht Uhr abends endete – der Sekundenzeiger sprang auf die zwölf und Coach Carter ließ seine Pfeife schrillen –, war ich aufgekratzt und erschöpft zugleich. Jerry und ich fuhren dann oft noch zu irgendeinem Fast-Food-Restaurant an der Hauptstraße. Er aß Salat, ich einen Burger. Wir redeten über den Coach, andere Spieler oder Mädchen. Wenn ich nach Hause kam, aß ich ein zweites Mal. Meistens waren Stan und Hazel noch wach. Mehrmals hatte ich versucht, etwas über ihre Berufe zu erfahren, aber darüber sprachen sie nicht sonderlich gern. Er war Chemiker in einem Institut und sie Sekretärin. Mehr wusste ich nicht. Hazel wärmte mir die für mich aufgehobene Mahlzeit in der Mikrowelle auf und einer von beiden setzte sich zu mir an den Tisch und leistete mir Gesellschaft. So abrupt wie in den Wochen dieses harten

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