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Alle Tränen dieser Erde

Alle Tränen dieser Erde

Titel: Alle Tränen dieser Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian W. Aldiss
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Laufbahn vom Pech verfolgt und der Gesellschaft gegenüber ein wenig verbittert. Er genoß es, die Rolle des rauhen Soldaten zu spielen. Nach vielen Dienstjahren war er jetzt Exil-Offizier, der unseren Sektor der Südgrenze zwischen Westciv und den Schwarzen kommandierte. Als solcher würde er morgen mein Vorgesetzter sein. Heute waren wir einfach Kumpel, und ich holte das Schachbrett heraus.
    »Ich fühle mich heute selbst zu sehr wie eine Schachfigur, um gut zu spielen«, meinte er, als wir uns ans Fenster setzten. »Die letzten vierundzwanzig Stunden habe ich im Büro gesessen und die Fotoformulare ausgefüllt. Wir ertrinken in Formularen! Die Hungersnot in Nordafrika wird jetzt noch durch eine Choleraepidemie verschlimmert.«
    »Die Probleme der Dritten Welt gehen uns nichts an!«
    »Leider ist der Zusammenhang größer, als man an der Oberfläche erkennt. Die Behörden fürchten, daß die Cholera die Grenzen nicht respektiert. Wir müssen morgen Flüchtlinge durchlassen, und sie könnten die Erreger mitbringen. Man richtet eine Not-Isolierstation ein. Die Schuld von Westciv – wir hätten Afrika von Anfang an Hilfe leisten sollen.«
    Beim Flug Rainbow-Kennedy hatte ich zollfrei eine Dose Bourbon-Whiskey gekauft. Greaves und ich öffneten sie, aber er war düsterer Stimmung und kam bald auf sein altes Thema zu sprechen, die Verantwortung der Staaten für die Konfrontation Weiß-Schwarz. Ich akzeptierte seine Diagnose keinen Augenblick, und das wußte er auch, aber es hinderte ihn nicht daran, die Nachteile unserer Verbrauchergesellschaft zu beschwören, in der alles auf Neid beruhe, und die Schande der Neger-Lösung – obwohl er nicht sagte, wie wir sie hätten umgehen können. Da wir damals noch Kinder gewesen waren, konnte ich nicht verstehen, warum er sich schuldig fühlte. Jedenfalls war ich der Meinung, daß die farbigen Rassen der Dritten Welt unterentwickelt waren, weil ihnen Intellekt und Moral von Westciv fehlten.
    Ich ließ Greaves also bei Bourbon mit Eis sich ausschwätzen, während ich durch das Fenster auf unseren Innenhof blickte.
    Der Plattenweg in der Mitte, flankiert von einer Kolonnade, um die sich Bougainvillea rankten, führte zu einer kleinen Diana-Statue aus Carrara-Marmor, die an der Rückwand stand. Alle Mauern im Hof waren gelb verputzt. Auf der linken Seite zwitscherten Ris Finken in ihren Käfigen. Im Garten wuchsen Orangen- und Zitronenbäume. Über der hinteren Mauer erhoben sich die Berge von Kalabrien.
    Ich wurde nie müde, diesen friedlichen Anblick zu genießen. Was mich aber vor allem anzog, war Natalie in ihrem einfachen grünen Kleid. Ich hatte sie in vielen Formen geliebt, dachte ich, und am Ende des Jahrzehnts würde es nicht allzu schwer sein, sie gegen eine andere einzutauschen – es war jedenfalls besser, als ein Leben lang eine einzige Frau behalten zu müssen, wie im alten System – aber entweder wurde ich langsam älter, oder an Natalie war etwas Besonderes. Sie spielte mit Ri und unterhielt sich mit der kalabrischen Zugehfrau. Ich konnte kein Wort verstehen, obwohl die Fenster offen waren, um Wärme und Luft hereinzulassen; nur das Stimmengemurmel drang zu mir.
    Ja, sie mußte ausgetauscht werden. Man mußte im Leben manches gehen lassen. Dadurch erst drehte sich die Welt. Geplantes Verhalten als soziale Dynamik, in menschlichen Beziehungen ins passende Integrationszentrum gehen müssen, um zu lernen, wie man ein brauchbares Mitglied der Gesellschaft wird – genau wie meine andere Tochter Melisande, die vor einem Jahr an ihrem zehnten Geburtstag gegangen war.
    Melisande, die bei der Trennung so herzzereißend geweint hatte… ein trauriger Hinweis darauf, wie sehr sie der Integration bedurfte. Von uns allen wurden Opfer verlangt, sonst mußte der Lebensstandard sinken. Mit der Zeit härtete man gegen Trennungen ab. Ich dachte jetzt kaum noch an Melisande.
     
     
    Und als ich Natalie kennengelernt hatte. Natalie Ezard. Das war vor den Integrations-Gesetzen. ›Die Raumfahrt nährt unsere tiefsten und bizarrsten Wünsche.‹ Gegen Gemütszustände maximalen Wachseins schweben ausgefallene hypnoide Zustände, die die äußere Dunkelheit hochrot und jadegrün färben und formlose Objekte zum äußersten Rand des Sehens wandern lassen. Vielleicht deshalb, weil im innersten Kern des Reichtums der metallgefesselten Raumfahrt die Entbehrung der Sinne liegt. Trotz des Versprechens der Wiedergeburt ist Vakuum-Flug der Tod des Lebens, und nur die völlig Schizoiden sind

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