Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
Stelle, wo der Weihnachtsbaum aufgestellt werden sollte, hatte Mama Papierservietten ausgebreitet, in mehreren Lagen, damit kein Kerzenwachs aufs Parkett tropfen konnte.
Meine Geschenke ließen mich kalt. Ein olivgrüner Parka, ein Locher, ein Wecker und ein Taschenrechner von Mama und Papa, ein brauner Pulli und zehn ebbsche Mark aus Jever, von Onkel Dietrich ein Buch über die befurzten Olympischen Spiele in Montreal, von Tante Dagmar Briefpapier, ein Buch über Goebbels und eine LP von Melanie, von Tante Gertrud eine neue Platte mit Hitler-Reden und von Oma Schlosser zwanzig Mark und dazu Noten: »Das wohltemperierte Klavier« in zwei Bänden. Fast noch am besten fand ich einen von Renate gestrickten Rollkragenpullover, aus dem drei Schokoladenweihnachtsmänner herausfielen, als ich den anzog.
Früher war Weihnachten irgendwie geiler gewesen.
Um Geld zu sparen, hatten Volker und ich einander feierlich gelobt, uns gegenseitig nichts zu schenken. Für Wiebke, der ich nichts geloben wollte, hatte ich einen auf der Straße gefundenen Plastikring in einer Streichholzschachtel verstaut und die Streichholzschachtel in einer alten Zigarrenkiste von Opa Jever und die Zigarrenkiste in einer leeren Dash-Trommel und die Dash-Trommel in einem Karton und den Karton in einem noch größeren Karton, und als ich Wiebke den überreichte, machte sie Glotzaugen, weil sie für mich nur eines ihrer miesen Stickbilder verfertigt hatte, während ich mit so was Großem ankam, aber als sie der Sache dann auf den Grund gegangen war, hätte ohne Mamas Eingreifen nicht viel gefehlt, und der Ring wäre mir um die Ohren geflogen.
»Benehmt euch gefälligst! Alle beide!«
Mehr als über meine Gutscheine für mehrmaliges Blätterharken und Rasenmähen und auch mehr als über das neue, von Renate übersandte Schneidbrett und die braune Keramikschale von Tante Grete freute Mama sich über den von Papa ausgestellten Gutschein für eine Flugreise nach Venezuela, wo eine alte Freundin von ihr wohnte. Als Geschenk an sich selbst hatte Mama ein Paar Winterstiefel kaufen wollen, aber keine passenden gefunden.
Volker zählte seinen Mammon. Für das neue Moped, nach dem er geierte, hatte er jetzt mehr als hundert Mark zusammengekratzt. (»Die alte Nuckelpinne tut’s ja doch nicht mehr lange ...«) Und von Onkel Walter hatte er eine LP von Roger Whittaker gekriegt. Den hatte ich schon mal im Radio gehört.
A little good-bye, a little I’ll do what I must do ...
Es war mir neu, daß Volker diesen Schnulzen-Opa favorisierte. Zum Glück schuldete man niemandem Rechenschaft für die Geschmacksverirrungen der eigenen Geschwister.
Wiebke hatte eine Uhr, zwei Bilderbücher, ein neues Poesie-Album, ein Paar Handschuhe, einen Pulli, einen Schlafanzug, ein Trachtenjäckchen und einen Schottenrock eingesackt. Im Sommer wollten die Hannover-Schlossers sie auf eine Nordseeinsel mitnehmen.
Damit auch Pepik was vom Weihnachtsfest hatte, ließ Wiebke ihn im Wohnzimmer herumlaufen, und er verschwand unter dem Heizkörper hinter den beiden Sesseln am Fenster, auf denen nie jemand saß, weil man von da aus nicht fernsehkucken konnte.
»Den Käfig kannst du auch mal wieder saubermachen, so verwahrlost, wie der ist«, sagte Papa.
In der Nacht fiel Schnee. Weiße Weihnachten! Wiebke flitzte gleich nach dem Frühstück nach draußen, einen Schneemann bauen, aber ich wollte mir lieber meine neuen Platten anhören. Auf der einen schrie sich Adolf Hitler ziemlich was zusammen, und auf der anderen rief Melanie einen zum Handeln auf:
There’s no time to lose, I heard her say
Catch your dreams before they slip away ...
Ja, wenn das so einfach gewesen wäre! Dann hätte ich mal eben bei Michaela Vogt anrufen können: »Hallo, ich bin’s, Martin, und ich dürfte dir kein Unbekannter sein, denn ich bin der Junge, der dich im Klassenzimmer jeden Tag stundenlang anstarrt! Wie wär’s, hättest du nicht Lust, mich mal besuchen zu kommen? Ich könnte dir meine Platten vorspielen, von den Beatles, von Cat Stevens, Melanie, Joan Baez und Adolf Hitler, und du könntest meine Freundin werden!«
Mit jeder Sekunde, die ich ungenutzt verstreichen ließ, rückte meine Todesstunde näher, und auch Michaela Vogt würde nicht ewig leben, aber wenn ich sie tatsächlich angerufen hätte, wäre garantiert ihr kleiner Bruder an den Apparat gegangen. Oder ihr Vater. Oder ihre Mutter: »Michaela ist beim Tennis! Und wer spricht da bitte?«
Beim Fondue machte sich Mama über die
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