Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
drei Kannen Tee konsumiert, sondern tatsächlich stundenlang über Kafka, Freud und Woody Allen geredet und vor allem auch über die Schule, alle möglichen Pauker und unsere familiären Probleme.
»Wer was sich auf hält, wohnt in Esterfeld«, sagte Heike.
Sie begleitete mich bis vor die Tür zu meinem Fahrrad, und mir zitterten die Hände, als ich den Schlüssel ins Schloß steckte.
»Wir sehen uns ja morgen in der Schule«, sagte Heike. »Aber du bist auch hier ein, äh ... ein gerngesehener Gast, hätt’ ich bald gesagt ...« Und dann lachte sie und rief mir hinterher: »Kiek mol wedder in!«
Ich sah über die Schulter zurück. Heike winkte mir zum Abschied nach, und da wußte ich: Ich hatte es geschafft. Noch nicht so ganz, okay, aber ich war auf dem besten Wege, und ich stieg in die Pedale und füllte meine Lungenflügel mit der süßen Maienluft.
In den Unterrichtspausen konnte ich jetzt ganz ungezwungen mit Heike parlieren, wobei ich darauf achtete, nicht wie ’ne Klette an ihr zu kleben. Wieder besuchen wollte ich sie erst nach einem zweitägigen Moratorium, damit sie mich nicht für aufdringlich hielt.
In der Zwischenzeit las ich Kafka. Die Geschichte von Gregor Samsa, der eines Morgens seine Verwandlung in ein ungeheueres Ungeziefer entdeckt, hätte auch Edgar Allan Poe gefallen, ebenso wie die Geschichte, in der ein Vater seinen Sohn zum Tode des Ertrinkens verurteilt.
»Ah, Georg!« sagte der Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock öffnete sich im Gehen, die Enden umflatterten ihn – ›Mein Vater ist noch immer ein Riese‹, sagte sich Georg.
So wie Papa. Der war mit seinen eins neunzig ’n ganzes Ende größer als ich.
Bei Heike saß das nächste Mal auch Henrik Osterlohe rum, und kurz nach mir erschien ein Mädchen, dem Heike Nachhilfeunterricht in Englisch gab.
»Ruf halt besser vorher mal an, wenn du kommen willst«, sagte sie zu mir. »Bis Sonntag bin ich mit meinen Eltern weg, aber vielleicht in der Woche drauf oder so ...«
In der Woche drauf oder so! Während Henrik Osterlohe täglich ein- und ausging?
Nun gut, ich würde warten. Bis Dienstag. Oder bis Mittwoch. Und wenn ich dann anrief und Heike mich auf ein anderes Mal vertröstete, dann – tja, was dann?
Mama wollte endlich in ein anderes Haus ziehen. Das in der Georg-Wesener-Straße sei viel zu schwer sauberzuhalten und überhaupt viel zu groß und zu kalt und zu alt. »Hier geht doch ständig was in die Binsen! In Wiebkes Zimmer klemmen die Fenster, im Elternschlafzimmer sind die Wände feucht, und in der Waschküche ist der Gulli verstopft. Und dazu noch dieser Riesengarten! Und das ewige Fenstergeputze! Und wenn ich’s im Wohnzimmer schön warm haben willen, muß ich das gesamte Eßzimmer mitbeheizen!«
Über die Kälte im Haus beschwerte Mama sich oft, aber sobald ich in meinem Norwegerpulli zum Frühstück aufkreuzte, ätzte sie mich an: »Du bist mal wieder angezogen wie so’n Nordpolfahrer!«
In Bio fielen die Vokabeln »Polyploidie« und »Gen-Drift«, und in Reli ging es gleich anschließend um die sogenannte Theologie der Befreiung. Der kolumbianische Priester und Guerillakämpfer Camilo Torres hatte Marxismus und Christentum zu verbinden versucht und war 1966 bei einem Gefecht ums Leben gekommen, und in El Salvador war vor noch gar nicht so langer Zeit der Erzbischof Oscar Romero, der die Militärdiktatur in seinem Lande angeprangert hatte, ermordet worden, bei einem Gottesdienst, am Altar. Seitdem wütete in El Salvador der offene Bürgerkrieg.
Der Ruffhold sprach sich zwar nicht explizit für den Gehorsam gegenüber Militärdiktatoren aus, aber er meinte, daß ein Christ nicht ohne weiteres zur Waffe greifen und zur Gewaltanwendung aufrufen dürfe.
Mir waren die Theologen der Befreiung aus anderen Gründen suspekt: Das Christentum, das hatten doch erst die Konquistadoren nach Amerika eingeschleppt, und zu einer wahren Befreiung hätte es meines Erachtens gehört, die Herrschaft der Kirche zu brechen und den Menschen ihren Aberglauben an die jungfräuliche Empfängnis und alle anderen christlichen Mythen auszureden.
Als Partisan zu kämpfen, das hätte ich aber wohl auch nicht gut hingekriegt. Das mußte gräßlich sein. Wie in dem einen Song auf Leonard Cohens zweitem Album:
There were three of us this morning
I’m the only one this evening
but I must go on ...
Wie sollte man das ertragen?
Aus einem Kaff namens Taormina schrieb uns Tante Dagmar auf einer Urlaubskarte, daß die
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