Alle Vögel fliegen hoch
spurtete los. Weg von mir. Zurück zum Gehöft von Rudi.
»Sarah!«, rief ihre Mutter. »Sarah komm sofort zurück!« Dann fluchte sie »Verdammter Mist«, entschuldigte sich bei mir und fragte mich. »Können Sie vielleicht Ihren Wunderhund mal bellen lassen? Dann kommt sie bestimmt. Aber lassen Sie die Tür zu, um Himmels willen die Tür zulassen!«
Sarah kam auch ohne Flippers tiefe kräftige Stimme, als sie realisierte, dass ich zu diesem Volvo gehörte – das Frauchen von dem lieben Hund.
Durch den schmalen Fensterschlitz keuchte ihre Mutter mit atemknapper Stimme: »Ich wollte mich noch bei Ihnen entschuldigen für meinen Vater neulich. Wegen dem Gewehr. Sie haben ihn gefilmt? Aber das hat er nicht so gemeint. Das war ganz harmlos. Der will uns immer nur beschützen, und er hat viel mitmachen müssen mit mir und den Hunden, weil das doch passiert ist, als ich ein Kind war und seitdem habe ich diese Panik.«
»Das ist bestimmt nicht leicht«, erwiderte ich.
»Nein. Bei schwarzen Hunden ist es ganz schlimm. Da kriege ich manchmal keine Luft mehr, und es dauert ewig, bis ich mich beruhige. Ich weiß, dass Ihr Hund mir nichts tut, aber eben nur im Kopf, und wenn er jetzt gleich rausspringt, schließe ich das Fenster, in Ordnung?« Und schon war der Fensterspalt, durch den nicht mal eine Flipperpfote gepasst hätte, dicht.
»Ich bin ohne Hund«, sagte ich.
»Was?«, fragte sie und öffnete den Spalt erneut.
»Wo ist er denn?«, fragte Sarah.
»Sicher?«, fragte ihre Mutter, als könnte ich mich täuschen.
»Er ist daheim«, sagte ich. Es war ganz einfach. Daheim. Alles gut. Ich brauchte es bloß auszusprechen.
Sarah machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder los Richtung Opa-Haus.
»Sarah! Sarah, bleib da!«
»Was hat sie denn?«, fragte ich.
»Diese Scheißtauben!«, schimpfte Sarahs Mutter. »Jedes Mal das gleiche Gschiss. Sie kriegt eine von ihrem Opa, lässt sie fliegen, die Taube kommt nicht zurück – und die Katastrophe ist da. Sarah! Jetzt steig ein!«
»Ich will aber auf die Polly warten! Bestimmt kommt sie noch zurück. Alle anderen sind gekommen. Nur die Polly nicht!«, die Kinderstimme wurde dünn.
»Wenn du jetzt nicht gleich einsteigst, gibt es die ganze Woche kein Fernsehen.«
Auch das war ein Grund, warum ich kein Kind wollte. Man wurde automatisch zur Erpresserin.
»Ich will mit dem Opa auf die Polly warten!«
»Das ist meine letzte Aufforderung. Du steigst jetzt sofort ein!«
Als würde ein bockendes Pferd in ihr toben, kam Sarah näher, wich zurück, verzog das Gesicht, ballte die Fäuste, heulte.
»Marsch, Marsch, junge Dame!«, rief ihre Mutter und wandte sich an mich: »Sie wollen zu meinem Vater?«
Ich nickte und überlegte, warum. Es gab keinen Grund. Nur dieses vage Gefühl.
»Ich glaube, das ist keine gute Idee. Wenn Sie etwas von
ihm wollen, sollten Sie vielleicht besser ein andermal wiederkommen, wir haben nämlich gestritten.«
»Wegen der Tauben?«
»Ja. Weil das nicht geht, dass das Mädel nur noch die Vögel im Kopf hat und immer die Vögel und sich für nichts interessiert.«
»Das stimmt gar nicht!«, widersprach Sarah und stieg mit einem Gesicht, das meine Oma »eine Lätschn zum Drauftreten« genannt hätte, ein.
Ich parkte ein Stück vom Haus entfernt, am Wiesenrand in der Deckung der Gebäude. Nur so ein Gefühl. Es roch nach frisch gemähten Wiesen, nach Sommerabend und so, wie Glück früher einmal gerochen hatte. Ohne Flipper war der Sommer nicht schön. Allein würde ich nie in den Sonnenuntergang rennen, höchstens in den Untergang. Der schlammfarbene Mercedes parkte nicht im Hof. Aber es gab ja eine große Garage und die Scheunen. Das Grundstück sah verlassen aus, doch die Haustür stand offen, und der Schlüssel steckte.
»Hallo?«, rief ich.
»Sarah!«, antwortete mir der Opa.
Ich folgte seiner Stimme. Wir begegneten uns an der Küchentür, wo er – graue Hose, blau-weiß kariertes Hemd, das an den Seiten aus der Hose zipfelte, dunkelblaue Hosenträger – mir hoffnungsvoll entgegensah. Eine Haarsträhne hing ihm in die Stirn.
»Sie?«, fragte er und schaute hinter mich, als verstecke ich seine Enkelin im Windschatten.
»Sie muss zum Reiten«, sagte ich.
»Scheißreiterei«, sagte er und setzte sich an den Küchentisch, ohne mich zu beachten. Auf der braun- und ockerfarbenen Wachstuchtischdecke mit Herbstmotiven – Birnen, Trauben, Laub, Holzteller – stand eine Flasche ohne Etikett mit durchsichtiger Flüssigkeit. Selbst
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