Alle Vögel fliegen hoch
Brieftauben, die nicht mehr heimfinden. Die sind müde. Erschöpft nach einem Flug über Hunderte von Kilometern. Und warum nicht auch: verzweifelt. Schließlich will das Geschöpf doch bloß heim zu seinem Partner oder den Jungen. Klug ausgedacht, deshalb aber nicht weniger verabscheuungswürdig: Die Taubenzüchter beuten eine soziale Eigenschaft des Vogels schamlos aus für ihren persönlichen Gewinn.«
»Wie das?«
»Indem sie zwei Tauben miteinander turteln lassen – und dann trennen sie sie. Oder reißen sie aus dem Nest, wo sie ihre Jungen haben. Das wird Motivation genannt. Liebe als Motivation. Gar nicht mal dumm. Und es funktioniert. Nur ist das für mich keine Motivation, sondern Folter. Das Konzept geht auf, weil die Tauben treue Partner sind und vorbildliche Eltern. Die Taube gibt alles, gibt ihr Letztes, um wieder in ihren Schlag zu kommen. Dem Taubenzüchter
bringt sie dadurch eventuell eine hübsche Summe Preisgeld ein. Aber nicht alle schaffen es. Das Wetter. Die Umstände. Und eben: die Greifvögel. So schafft sie es vielleicht doch nicht. Wenn Sie so eine halb verhungerte Taube aufgreifen und dem Züchter zurückbringen – eine Brieftaube zum Beispiel trägt einen Ring –, will der sie vielleicht gar nicht mehr, diese Versagerin. Die hat ja nicht nach Hause gefunden. Die leistet ja nichts. Nein, sie ist nur Hunderte von Kilometern geflogen. Taubenzüchter nennen das übrigens Selektion.«
»Aber das ist ja furchtbar!«
»Ja, Frau Fischer. So ist das mit den Tauben. Und dann regt man sich darüber auf, weil sie alles zuscheißen, und die alten Frauen, die sie füttern, werden beschimpft als hätten sie diese Krankheitenüberträger persönlich in die Welt gesetzt. Die Tauben und die alten Frauen, sie sind lästig. Und keiner fragt, warum das so ist. Was dahintersteckt. Nein, das will man gar nicht wissen. Nicht wissen, obwohl man wissen könnte, das ist ein Zeichen von Dekadenz. Das ist der Beginn vom Ende der Menschheit, wenn die Natur als lästig aufgefasst wird.«
»Und was haben die Taubenzüchter gegen die Greifvögel? Das sind doch auch Vögel! Wer Tauben hält, muss doch die anderen Vögel auch mögen? Wenn das alles zusammengehört. Es gehört doch alles zusammen?«
»Leben und sterben, fressen und gefressen werden, Frau Fischer. Manche Menschen fressen Singvögel. Und löffeln das Gehirn atmender Affen und schneiden Fischen die Flossen ab und so weiter und so weiter. Wo ist das Bewusstsein für das Leben an sich, wenn das Leben wie tote Materie behandelt wird, was sagt uns das über die Spezies Mensch und
die Zukunft, der wir entgegengehen? Wo ist das Bewusstsein für die Natur als Ganzes? Das kann kein technischer Fortschritt wettmachen. Wenn das weg ist, ist das genauso, als würde eine Gattung aussterben. Und ich weiß nicht, was danach kommen soll.«
Danach kamen die Tauben. Ich hörte sie überall. Sie gurrten im Hof, und sie gurrten in meinem Kopf, alles voller Tauben, überall Tauben. Die mich riefen.
24
Wie lautete die korrekte Anrede in einem Erpresserbrief? Sehr geehrter Herr Erpresser? Hallo du Schwein, ich brech dir jeden Knochen einzeln? Sehr geehrte Damen und Herren Erpresser. Oder: Sehr geehrte Erpresserinnen und Erpresser?
Nachdem ich eine halbe Stunde vor einem Blatt Papier gesessen und keinen Anfang gefunden hatte für den wichtigsten Brief meines Lebens, nachdem der Küchenboden mit Papierkugeln übersät war, die keine Flipperschnauze unter das Buffet schoss, nachdem ich eine Packung Tempotaschentücher aufgeweicht und auch meinen letzten Versuch zusammengeknüllt hatte, googelte ich eher aus Verzweiflung denn mit Hoffnung Anrede in Erpresserbriefen und staunte nicht schlecht. Mehrere Treffer. Ein Artikel in einer Zeitschrift für Germanistische Linguistik, den ich käuflich erwerben konnte. Ferner ein Bericht über das Archiv für Erpresserbriefe des Bundeskriminalamts. Als ich den gelesen hatte, entschuldigte ich mich gedanklich bei meinem Kommissar. Auch in dem polizeilichen Archiv, in dem rund fünftausend Schreiben hinterlegt waren, gab es lediglich eine Handvoll solcher in Bastelarbeit hergestellter Exemplare, wie ich eines erhalten hatte. Kein Wunder: Sie trugen die meisten Spuren, und die führten zum Absender, was
normalerweise nicht im Sinne des Erpressers liegt. Der erste Erpresserbrief einer Serie, so erfuhr ich, würde oft höflich gehalten, mit korrektem Betreff: Erpressung ! Auch die korrekte Bezeichnung der Anlage zum Brief fehlte nicht:
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