Alle Vögel fliegen hoch
struppte. Beim Suppeessen wollte ich ihm nicht gegenübersitzen.
»Sie haben es gesehen, gell? Großartig, einfach großartig! «
»Hallo«, sagte ich erst mal und fragte mich, was ich gesehen haben sollte und was der Mann gesehen haben mochte. Ein Fernglas baumelte vor seiner Brust.
»Das sieht man ja ganz selten! Ein Wanderfalke, ein Bisstöter. Die meisten Raubvögel sind ja Grifftöter.«
»Aha«, machte ich höflich. Was war denn das für ein komischer Kauz. Und was war großartig daran, dass ein armer kleiner Vogel gekillt wurde?
Der Mann deutete auf sein Fernglas. »Es war eine Taube. Na ja. Ich glaube, es war niemand in der Nähe, haben Sie jemanden gesehen?«
»Nein.«
»Großartiges Schauspiel. Der Wanderfalke ist der schnellste Vogel der Welt. Man nimmt an, dass er im Sturzflug Geschwindigkeiten von bis zu 340 km/h erreicht. Manche Quellen sprechen sogar von 360 km/h. Ist das nicht großartig, mit welcher Wucht er sich auf seine Opfer fallen lässt? Das sind hundert Meter pro Sekunde!«
»Ich bin echt total beeindruckt«, erwiderte ich genervt, was die Begeisterung meines Gegenübers nicht dämpfte.
»Dabei tötet er sein Opfer allerdings nicht. Das macht er auf dem Boden mit dem Falkenzahn.«
»Entschuldigung«, sagte ich und ärgerte mich, weil ich mich entschuldigte, »aber ich kann daran nichts toll finden. Ich brauche so was auch nicht, wenn ich in der Natur bin. Da reichen mir die Wiesen und die Felder, gerade jetzt, wo alles so schön gelb ist!«
»Zugeschissen, alles zugeschissen«, murmelte der Waldschrat.
»Wie?«
»Das Gelb. Der Löwenzahn. Das ist gelbe Scheiße. Das kommt vom Odeln. Je mehr überdüngt, desto Löwenzahn.«
Jetzt wurde ich doch neugierig. »Tatsache?«
»So was hat’s früher nicht gegeben. Aber jetzt kippen sie
ja alles raus auf die Wiesen und Felder. Und der Löwenzahn frisst sich überall durch.«
»Also ist der Löwenzahn ein Falke«, resümierte ich.
»Nein. Der Falke hat Hunger und eine Familie zu versorgen. «
»Ach, und der arme Löwenzahn hat keine Familie?«, erwiderte ich.
»Ich glaub das nicht. Aber darüber könnte man diskutieren. «
»Ich hab’s eilig«, sagte ich.
»Ja freilich. Ihr habt es ja immer eilig. Mal husch, husch ins Grüne, keine Ahnung, alles aufstören, und weg seid ihr.«
»Ja, so samma«, sagte ich und »wiederschaun.«
Der Waldschrat lupfte seinen Hut.
Martina schaute mich ungeduldig an. Sie hatte mich vielleicht etwas gefragt. Ich wusste nicht, wie viel Zeit ich für meine Erinnerung verbraucht hatte. Und ich wusste nicht, was ich verpasst hatte. »Mit welcher Yvonne haben Sie mich eigentlich verwechselt?«, fragte ich.
»Yvonne ist die Freundin meines Bruders. Übrigens sehen Sie ganz anders aus. Der Kommissar hat mir ein Foto gezeigt. Aber es hätte ja älter sein können. Ich kenne Yvonne leider noch nicht, und ich habe«, sie presste ihre Hand auf den Mund, »ihre Telefonnummer auch von der Polizei bekommen … Ist das nicht schrecklich?«
»Nein, logisch«, erwiderte ich. »Wenn Sie kaum Kontakt mit Ihrem Bruder hatten, wieso sollte Ihnen dann die Telefonnummer seiner Freundin bekannt sein?«
»Das Schreckliche ist, dass die Freundin vielleicht gar
nicht so eng war, wie er mir damals erzählte, dass also auch das, was ich zu wissen glaubte, eventuell gar nicht stimmt, dass ich vielleicht gar nichts weiß. Und so frage ich mich, was ich überhaupt für ein Verhältnis zu meinem Bruder hatte. Ich glaube, gar keines. Das ist das Schlimme. Viel lieber würde ich sagen, ein gutes oder ein schlechtes. Aber ich weiß das nicht. Ich weiß es einfach nicht. Er war eben mein Bruder. Neun Jahre jünger als ich. Da hat man nicht so viele Gemeinsamkeiten. Vielleicht hätten wir uns im Alter angenähert. So was hört man ja öfter, dass man sich dann doch noch findet. Aber auf einmal ist alles zu spät. Unwiderruflich. Und dann merkt man plötzlich, dass man sich gar nicht kennt, dass man jahrzehntelang in einer Illusion von Kennen gelebt hat. Ich würde meinen Bruder so gerne gekannt haben. Aber ich werde ihn nie wieder kennenlernen. Und das, was ich da oben noch finden werde«, sie deutete zum Haus, »wird nur ein Ausschnitt sein, den ich interpretieren kann – aber ob ich damit Recht habe?«
»Man weiß nie, ob man jemanden kennt, auch wenn man ihn kennt. Kennen ist nicht kennen, man kann das immer nur vermuten«, warf ich ein.
»Nein«, Martina schüttelte den Kopf. »Ich habe viel darüber nachgedacht. Wenn man
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