Alle Vögel fliegen hoch
hinter sich griff und ihr grünes T-Shirt von einer Garderobe pickte, stieß sie wütend hervor:
»Können Sie mich nicht endlich in Frieden lassen! Seit drei Tagen bringen Sie mein Leben durcheinander. Ich habe alles gesagt, was ich weiß. Ich kenne ihn nicht. Auch wenn er behauptet, dass ich ihn kenne. Das hat er sich eingebildet. Ich habe ihn nur bedient. Ich kann doch nichts dafür, dass er sich im Café in mich verknallt hat. Vielleicht hat er das aber auch nicht. Wie gesagt: Woher soll ich das wissen, wenn ich ihn nicht kenne. Ich habe es einfach vermutet. Gemerkt habe ich es nicht. Ich weiß doch auch nicht, was in seinem Kopf vorgegangen ist. Ich will damit nichts zu tun haben!«
Sie streifte das T-Shirt über und funkelte mich an.
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Sie hielt mich für eine Kollegin des Kommissars.
»Frau Paulus«, sagte ich. »Es tut mir wirklich leid, dass wir Ihnen solche Umstände machen.« Meine Brust verbreiterte sich. Ich wurde wichtiger und größer – staatstragend. Es war genauso, wie ich es in meinen Selbstverteidigungskursen lehre. Auch meine Stimme wurde tiefer. Niemand würde an meiner Autorität zweifeln. Niemand würde es wagen, mich jetzt anzugreifen.
Yvonne Paulus seufzte. Wenn sie nicht so wütend gewesen wäre, hätte sie süß ausgesehen. Die braunen Augen harmonierten wunderbar mit den blondierten Haaren. Bestimmt hatten Dutzende von Männern Dutzende von Kilos zugenommen, als sie sich sahnige Torten von ihr servieren ließen.
»Also gut. Aber versprechen Sie mir, dass heute das letzte Mal ist.«
»Ich kann Ihnen das nicht garantieren, doch ich denke, dass wir Sie jetzt dann in Ruhe lassen können.« Moppelchen fiel mir ein – »sobald Sie Ihre Aussage unterschrieben haben. «
»Das habe ich bereits. Heute Mittag.«
»Bei meiner Kollegin von Dobbeler?«, fragte ich schnell, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.
Yvonne zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe irgendwo eine Visitenkarte. Also, was wollen Sie wissen, und warum können Sie nicht alle auf einmal kommen? Außerdem dachte ich, wenn ich das Protokoll unterschrieben habe, ist endlich Ruhe. Das ist doch krass, wie Sie berufstätige
Menschen von der Arbeit abhalten. Glauben Sie, ich habe nichts anderes zu tun, als Ihnen ständig dasselbe zu erzählen?«
»Ich halte Sie wirklich nicht lange auf, wenn Sie mir noch mal alles von vorne erzählen.«
Sie riss die Augen auf. »Von vorne?«
»Ja, von vorne!«
»Können Sie das nicht irgendwo nachlesen?«
»Ach, ich muss jeden Tag so viel lesen und ich lese so ungern.«
Sie grinste. Sie war jünger als ich. Mitte zwanzig, schätzte ich. »Das verstehe ich.« Ein Zögern. »Und der Hund da?«
»Ist kein Kollege. Er gehört mir. Privat. Aber sein Sitter ist …«
Sie grinste noch breiter. »Verstehe. Kein Verlass auf die Typen. Okay, also okay.« Sie schaute auf ihre Swatch. »Ich will ins Kino. Und danach zum Essen. Mein Freund wartet nicht gern. Ich rede ganz schnell. Okay? Zehn Minuten. Ich muss mich noch umziehen. Und der Hund bleibt draußen. Ich mag keine Haare in der Wohnung.«
»Okay«, sagte ich.
»Moment«, bat sie, flitzte in den Flur und drückte bei ihren beiden Nachbarn rechts und links auf die Klingel. Niemand öffnete.
»Ich gehe davon aus«, sagte sie mit ziemlich lauter Stimme, »dass niemand da ist, also kann auch niemand was hören.«
»Frau Paulus …«, mischte ich mich ein.
»Ist schon okay. Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Sonst würden wir runtergehen. Aber auf den Spielplatz können
wir mit dem Hund auch nicht. Also ist es Ihnen hier jetzt recht?«
»Mir ist alles recht«, erwiderte ich verblüfft. Martina Hase-Berg fiel mir ein: Anscheinend gab es ein nachbarschaftliches Störfeld, das bislang in meinem Leben keine Frequenzen besetzt hatte. Ich selbst wusste gar nicht so genau, wer alles in meiner Nähe wohnte, bei uns war Flipper für die Sozialkontakte zuständig.
Yvonne musterte mich auf einmal nachdenklich. Mein Gesicht war offensichtlich ins Privat-Harmlose entgleist.
»Sonst müsste ich Sie bitten, mich auf die Dienststelle zu begleiten …«
»O nein! Bloß nicht! Das dauert ewig. Aber – warum kommen eigentlich immer neue Polizisten?«
Ich räusperte mich. »Frau Paulus – wenn Ihnen etwas zugestoßen wäre, würden Sie es dann nicht auch begrüßen, wenn sich so viele Menschen wie möglich um Ihren Fall kümmern würden? Wenn so viele verschiedene Meinungen eingeholt würden wie nur
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