Alle Vögel fliegen hoch
bekommen. Felix setzte sich auf einen Stein und legte seine Hand zärtlich an ihre Wange. Das Kind heulte und schluchzte und sah gar nicht mehr hübsch aus. Warum ließ er ihr das durchgehen? Es war allseits bekannt, dass Kinder Grenzen brauchen. Auf diese Art zog er sich einen kleinen Tyrannen heran. Ich ging zu Flipper, der im Schatten wartete. Felix nahm mich gar nicht wahr. Vielleicht sollte ich nach Hause radeln. Ich hätte nicht herkommen sollen. Meine genervten Blicke bemerkte Felix nicht, er sah nur seine Tochter, und mir wurde flau. Wie er sie tröstete. Wie sie auf seinem Schoß saß. Wie er sie hielt. Nichts konnte ihr passieren. Alles war gut, auch wenn sie weinte. Sie hatte einen Papa, und ihr Papa war da und groß und stark und würde sie beschützen. Immer. Ich drehte mich weg. Flipper stupste mich an. Ich ging in die Hocke und knetete seinen kräftigen seidigen Hals.
Auf einmal stand Felix mit dem Kind auf dem Arm neben uns. Die Kleine versteckte ihr Gesicht an seinem Hals. Verzogenes Gör.
»Sonntag ist immer schlimm«, sagte Felix leise. »Aber heute, Sneku, ist gar kein normaler Sonntag«, sagte er zu seiner Tochter, »heute bleibst du noch mal bei mir, und ich bring dich erst morgen zur Mama. Du schläfst heute noch mal bei mir.«
Die Kleine drehte den Kopf und schaute ihn an. In ihrem Gesicht kämpften Trauer und Freude. Dann riss sie die Arme hoch und drückte ihm einen knallenden Schmatz auf die Backe. Felix lachte.
»Magst du mal auf Flipper reiten, Sneku?«, fragte ich.
»Sneku darf nur mein Papa sagen«, erwiderte sie und ließ sich dann doch von Felix auf Flippers Rücken heben, der gutmütig den Bernhardiner herauskehrte, langsam loslief und seine Pfoten so vorsichtig in den Kies setzte, als würde er über Eier laufen. Felix hielt seine Tochter fest. Ich schämte mich in Grund und Boden. Das arme kleine Mädchen. Ich wusste, wie sich das anfühlt. Felix hob die Kleine wieder hoch und warf sie in die Luft und war überhaupt kein Kommissar mehr, sondern reine Liebe, und ich konnte sehen, wie er sich anstrengte, fröhlich zu sein und heiter, ich konnte sein betrübtes Herz spüren. Flipper auch. Zum ersten Mal, seit wir Felix kannten, drückte er sich an ihn, als wollte er ihn ein wenig stützen. Ich hätte Felix gerne festgehalten. Und gleichzeitig wollte ich wegrennen, weit, weit weg.
»Leider muss ich bald gehen«, sagte Felix nach einem Blick auf seine Uhr. »Wir sind zum Kuchen eingeladen, gell, Sinah?«
Sinah! Das war es!
»Will noch dableiben.«
»Oma und Opa wären aber sehr traurig, wenn wir nicht kommen, und die Oma hat extra Erdbeerkuchen für dich gemacht. Und danach fahren wir heim und schauen das neue Bilderbuch noch mal an.«
»Ui ja!«
»Das ist bestimmt nicht leicht für Sie«, sagte ich stockend.
»Ich habe zurzeit selten frei am Wochenende«, erwiderte er. »Und es ist alles noch recht frisch. Ja, wir haben eine schwierige Phase, aber gell, Sneku, das kriegen wir hin, wir zwei.«
»Dann laufe ich noch ein bisschen hier rum. Wirklich eine gute Idee, der Tierpark«, sagte ich gespielt munter.
»Wenn Sie eher gekommen wären, hätten wir mehr Zeit gehabt«, erwiderte Felix bedauernd.
»Wofür?«, entfuhr es mir.
»Für den Streichelzoo«, grinste er frech.
Sinah strampelte, und er ließ sie sanft auf den Boden gleiten. Im Windelgang rannte sie den Kiesweg entlang, und Flipper hinterher. Die Leine schleifte am Boden. Sinah bemerkte es, hob sie auf und winkte Felix. »Ja, Sneku, führ ihn ein bisschen Gassi.«
»Wau, wau!«, bellte Sinah Flipper an.
Felix lachte.
Sinah rannte los, Flipper lief im Fuß neben ihr. Sie waren ungefähr gleich groß. Felix und ich standen nebeneinander. Er war einen Kopf größer als ich. Ein bisschen wie Eltern , dachte ich.
»Glauben Sie denn, dass der Herr Metzger ein guter Tipp ist?«, fragte ich.
»Wir ermitteln in alle Richtungen«, sagte er.
»Also auch in seinem Job?«, fragte ich.
»In alle Richtungen«, wiederholte er und musterte mich. Ich konnte sehen, dass er nachdachte. Ich sah die Mappe aus seinem Auto vor mir. Ich versuchte, nicht an die Mappe zu denken. Aber nicht an die Mappe zu denken, war wie an die Mappe zu denken. Ich dachte blau. Blauer Himmel, blaue Sonne, alles blau.
Blaue Felix-Tixel-Augen. Ich tauchte tief ein, und als ich wieder zu mir kam, stand ich papaseelenallein vor einem Eisbär.
20
Unkonzentriert hielt ich am Montagvormittag meinen Unterricht ab. Ich hatte Angst, zu spät zu
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