Alle Wege führen nach Rom: Die ewige Stadt und ihre Besucher (German Edition)
Er beklagt zwar sehr deren Verfall, doch erscheint seine moralische Entrüstung wenig glaubhaft, wenn man bedenkt, aus welchem Mund sie kommt. Als der philosophe , der er zu sein vorgab, unterließ er es völlig, die spezifischen, sozusagen institutionellen Formen des Niedergangs der Sitten in den Blick zu nehmen. Gänzlich absorbiert von seiner Begeisterung für die Monumente, gepaart mit antiklerikaler Polemik, verliert er kein Wort über die römischen Sexualsitten. Diese waren ihm auch völlig unbekannt. Ein Beweis hierfür ist sein Roman Histoire de Juliette ou les prospérités du vice , der im päpstlichen Rom angesiedelt ist. 1797 geschrieben, als der Marquis längst in seine sadomasochistische Phase eingetreten war, unterscheiden sich die hier beschriebenen Orgien in nichts von denen in anderen Romanen, die nicht in Rom spielen. Überall der gleiche Gruppensex mit seinen akrobatischen Positionen und Verrenkungen, die am Ende nur noch komisch wirken. Da ist es auch ohne Bedeutung, wenn in der Histoire de Juliette mehrere Kardinäle, die Fürstin Borghese und sogar Papst Pius VI. Hauptrollen spielen. Dem Papst legt Sade eine Predigt über die Genüsse des Verbrechens in den Mund, die ein echter Prediger nie so endlos hinzuziehen gewagt hätte.
Abb. 16: Stefano Maderno, Statue der hl. Cäcilia, 1599, Rom, Basilica di Santa Cecilia
Sades monumentale «Reise» mit ihrer ganzen Fülle von aufgehäuftem Material ist letztlich ein Meer von Banalitäten, aus dem sich jedoch manchmal, wenn auch mit Mühe, eine Perle fischen lässt. Unter den vielen Kunstwerken, die der Marquis in Rom sah und mit unermüdlicher Pedanterie verzeichnete, berührte ihn die Statue der hl. Cäcilia von Stefano Maderno besonders (Abb. 16). In Wirklichkeit hatte schon der malträtierte Abbé Richard auf die Marmorskulptur aufmerksam gemacht und ihr eine ganze Seite gewidmet. Er hatte Madernos Skulptur in der der hl. Cäcilia geweihten Kirche in Trastevere gesehen und sich auch einige Informationen über die Wiederauffindung ihrer Gebeine verschafft, anlässlich derer die Statue in Auftrag gegeben worden war. Etwas mehr konnte der Marquis der «Reise» des Astronomen Lalande, seiner zweiten Hauptquelle, entnehmen. Dieser erzählte, dass die Skulptur den kleinen Körper der Heiligen in der gleichen Stellung, wie man ihn im Sarkophag gefunden hatte, nachbilde. Der Legende nach war das junge römische Mädchen im Bad ihres Hauses neben der Kirche Santa Cecilia enthauptet worden. Dieses Haus konnte man damals besichtigen.
Sade bereicherte seine aus den Reiseführern gewonnenen Kenntnisse, indem er im Gegensatz zu seinen Vorgängern die Skulptur und das angebliche Haus der Heiligen einer sorgfältigen Inspektion unterzog. Aufgrund seiner etwas rudimentalen und naiven ästhetischen Auffassungen suchte er nach Entsprechungen in der Realität, denn er glaubte, dass ein Bild um so schöner sei, je mehr es die Wirklichkeit abbildete. Deshalb bemühte er sich auch um zusätzliche historische Informationen und füllte die Lücken, die trotz seiner Nachforschungen unweigerlich bestehen blieben, mit Phantasie. Die Ergebnisse, zu denen er kam, geben Aufschluss über die Persönlichkeit und die wahren schriftstellerischen Interessen des Marquis. Er stellte vor allem fest, dass auf dem Nacken der liegenden Skulptur drei von Schwerthieben herrührende Wunden zu sehen waren – nicht nur eine, wie Richard und Lalande geschrieben hatten, welche die Skulptur offenbar nur flüchtig und nicht von Nahem gesehen hatten. Maderno hatte sich an die Heiligenlegende gehalten, in der tatsächlich von drei Schwerthieben die Rede ist. Sade fiel noch etwas anderes auf, von dem seine Vorgänger geschwiegen hatten, dass nämlich aus der größten Wunde am Hals ein Tropfen geronnenes Blut, «weiß wie Marmormilch», quoll, was ihn in reinste Verzückung versetzte: «Man sieht die drei Schwerthiebe, die sie trafen; das Blut quillt daraus hervor, und der Künstler hat sie genau in dem Augenblick festgehalten, als sie zweifellos an diesem gewaltsamen Tod verschied.» Auf dem Nacken des kleinen, auf der rechten Seite liegenden Körpers mit dem zum Boden hin gewendeten Kopf bemerkt man zunächst nur den tiefsten Einschnitt, jenen, der den Kopf vom Rumpf trennt, erst bei genauerem Hinsehen auch die beiden anderen Wunden. Die Schönheit des Körpers schien Sade durch das Martyrium in keiner Weise angetastet. Er glaubte vielmehr, dass das Martyrium den Körper in eine höhere
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