Alle Weihnachtserzählungen
gehabt hätte, sich in diesem Augenblick als Herr im Haus zu zeigen, war in seiner Brust die göttliche Fähigkeit zur Vergebung zu stark, als daß er ihr gegenüber auch nur den geringsten Gebrauch davon gemacht hätte. Doch er konnte den Anblick nicht ertragen, wie sie auf dem kleinen Stuhl zusammengekauert saß, wo er sie so oft mit Liebe und Stolz und so arglos und froh betrachtet hatte; und als sie sich erhob und ihn schluchzend verließ, empfand er es als eine Wohltat, lieber den leeren Platz neben sich zu haben als ihre so lang geschätzte Gegenwart. Diese Tatsache bereitete einen Schmerz, der heftiger als alles andere war, denn sie erinnerte ihn daran, wie einsam er geworden und wie sein großartiger Bund fürs Leben auseinandergebrochen war.
Je mehr er dies spürte und je mehr er wußte, daß er es hätte eher ertragen können, sie – durch einen frühzeitigen Tod dahingerafft – mit ihrem kleinen Kind auf der Brust vor sich liegen zu sehen, desto stärker wuchs der Zorn auf seinen Feind. Er sah sich nach einer Waffe um.
An der Wand hing ein Gewehr. Er nahm es ab und bewegte sich einen oder zwei Schritte auf die Tür des Zimmers zu, in dem sich der hinterlistige Fremde befand. Er wußte, daß das Gewehr geladen war. Eine vage Vorstellung, daß dieser Mann nur wie ein wildes Tier zu erschießen sei, packte ihn, breitete sich in ihm aus, bis sie zu einem fürchterlichen Dämon heranwuchs, der vollkommen von ihm Besitz ergriff, alle gemäßigteren Gedanken verwarf und seine alleinige Herrschaft antrat.
Diese Aussage ist falsch. Er verwarf nicht seine gemäßigteren Gedanken, sondern änderte sie geschickt um. Er verwandelte sie in eine Peitsche, die ihn antrieb. Er verwandelte Wasser in Blut, Liebe in Haß, Güte in sinnlose Grausamkeit. Das betrübte und gedemütigte Bild von ihr, das noch mit unwiderstehlicher Macht an seine Zärtlichkeit und Barmherzigkeit appellierte, blieb in seinem Herzen haften, doch während es dort blieb, trieb ihn seine dämonische Vorstellung zur Tür, ließ ihn das Gewehr schultern und den Finger an den Abzug pressen und rufen: „Bring ihn um! In seinem Bett!“
Er drehte das Gewehr, um mit dem Schaft an die Tür zu schlagen; er hielt es bereits erhoben; irgendein unbestimmter Plan ging ihm durch den Sinn, ihm zuzurufen, daß er um Gottes willen zum Fenster hinaus fliehen möge …
Da erleuchtete plötzlich das flackernde Feuer mit einem Aufflammen den ganzen Kamin, und das Heimchen am Herd begann zu zirpen.
Kein anderes Geräusch auf der Welt, keine menschliche Stimme, nicht einmal ihre, hätte ihn dermaßen rühren und erweichen können. Ihre aufrichtigen Worte, in denen sie ihm von ihrer Liebe zu diesem Heimchen erzählt hatte, wurden noch einmal gesprochen; ihr Zittern und Ernst in jenem Augenblick standen wieder vor ihm; ihre angenehme Stimme – oh, was für eine Stimme, die für einen rechtschaffenen Mann Hausmusik am Kamin machte – ließ seine besseren Charakterzüge erschauern und erweckte sie zu neuem Leben.
Er wich vor der Tür zurück – wie ein Mensch, der schlafwandelt und aus einem furchtbaren Traum erwacht – und stellte das Gewehr zur Seite. Dann setzte er sich wieder an den Kamin, schlug die Hände vors Gesicht und fand in seinen Tränen Erleichterung.
Das Heimchen am Herd trat ins Zimmer und stand in Gestalt einer Fee vor ihm.
„,Ich liebe es‘“, sagte die Fee und wiederholte damit, woran er sich gut erinnerte, „‚wegen der vielen Male, die ich es gehört habe, und der vielen Gedanken, zu denen mich seine harmonische Musik angeregt hat.’“
„Das hat sie gesagt!“ rief der Fuhrmann. „Wahrhaftig!“
„,Das ist ’n glückliches Heim, John, und darum liebe ich das Heimchen!‘“
„Das ist es weiß Gott gewesen“, erwiderte der Fuhrmann. „Sie hat es immer glücklich gemacht, bis jetzt.“
„So anmutig und sanft, so häuslich und geschäftig, froh und heiter!“ sagte die Stimme.
„Sonst hätte ich sie auch nicht so lieben können, wie ich es getan hab“, erwiderte der Fuhrmann.
Die Stimme verbesserte ihn: „Wie ich es tue.“
Der Fuhrmann wiederholte: „Wie ich es getan hab.“ Aber nicht fest. Seine unsichere Zunge versagte ihm den Dienst und wollte selbständig für sich und ihn sprechen.
Die Gestalt hob wie zum Schwur die Hand und sagte: „Auf deinen Herd …“
„Der Herd, den sie vernichtet hat“, mischte sich der Fuhrmann ein.
„Der Herd, den sie – wie oft! – geheiligt und heller gemacht hat“, sagte
Weitere Kostenlose Bücher