Alle Weihnachtserzählungen
Abends, als sie im Obstgarten spazierengingen, fragte Mr. Alfred: ‚Grace, soll Marions Geburtstag unser Hochzeitstag sein?‘ Und er war’s.“
„Und sie leben glücklich miteinander?“ fragte der Fremde.
„Ja“, sagte Clemency, „wie zwei Menschen nicht glücklicher leben könnten. Sie hatten weiter keinen Kummer als diesen.“
Sie hob den Kopf, als schenke sie plötzlich den Umständen Beachtung, unter denen sie sich jene Ereignisse ins Gedächtnis zurückrief, und blickte den Fremden schnell an. Als sie sah, daß sich dieser dem Fenster zugewandt hatte und den Ausblick in sich aufzunehmen schien, gab sie ihrem Mann lebhafte Zeichen, wies auf den Anschlag hin und bewegte ihren Mund, als wiederholte sie immer wieder ein Wort oder einen Satz mit großem Nachdruck. Da sie keinen Ton von sich gab und ihre stummen Bewegungen wie die meisten ihrer Gesten von besonderer Art waren, brachte dieses unverständliche Verhalten Mr. Britain an den Rand der Verzweiflung. Er starrte den Tisch, den Fremden, die Löffel, seine Frau an, folgte ihrem Pantomimenspiel mit Blicken großer Verwunderung und Bestürzung und fragte in derselben Sprache, ob der Besitz in Gefahr sei, ob er in Gefahr sei oder sie; beantwortete ihre Signale mit anderen, die äußerste Not und Verwirrung ausdrückten; folgte den Bewegungen ihrer Lippen und rätselte halblaut „Milch und Wasser“, „Kündigung in einem Monat“, „Mäuse und Walnüsse“ und konnte ihrer Bedeutung nicht näherkommen.
Clemency gab dieses hoffnungslose Unterfangen schließlich auf. Während sie ihren Stuhl ganz allmählich etwas näher an den Fremden heranrückte, saß sie mit scheinbar niedergeschlagenen Augen da, warf ihm aber hin und wieder aufmerksame Blicke zu und wartete darauf, daß er weitere Fragen stellte. Sie brauchte nicht lange zu warten, denn nach kurzer Zeit sagte er:
„Und was wurde später aus der jungen Dame, die weggegangen war? Das ist bekannt, nehme ich an.“
Clemency schüttelte den Kopf. „Ich hab gehört“, sagte sie, „daß Dr. Jeddler wahrscheinlich mehr weiß, als er sagt. Miss Grace hat von ihrer Schwester Briefe bekommen, daß es ihr gut geht und sie glücklich is und daß es sie noch viel glücklicher macht, weil sie mit Mr. Alfred verheiratet is, und sie hat zurückgeschrieben. Über ihrem Leben und Schicksal liegt ein Geheimnis, das bis zu dieser Stunde nich gelüftet wurde und das …“
Hierbei zögerte sie und hielt inne.
„Und das …“, wiederholte der Fremde.
„Das nur eine andre Person klären könnte, glaub ich“, sagte Clemency und atmete schnell.
„Wer könnte das sein?“ fragte der Fremde.
„Mr. Michael Warden!“ antwortete Clemency fast mit einem Aufschrei und vermittelte augenblicklich ihrem Mann, was sie ihm vorher gern verständlich gemacht hätte, und ließ Michael Warden wissen, daß er erkannt war.
„Erinnern Sie sich an mich, Sir?“ fragte Clemency, vor Aufregung zitternd. „Ich hab das eben gemerkt! Sie erinnern sich an mich, an jenen Abend im Garten? Ich war bei ihr!“
„Ja“, sagte er.
„Ja, Sir“, entgegnete Clemency. „Ja, gewiß. Das is mein Mann, wenn’s recht is. Ben, mein lieber Ben! Bring sofort jemand her!“
„Bleiben Sie!“ sagte Michael Warden und stellte sich gelassen zwischen die Tür und Britain. „Was wollen Sie tun?“
„Sie sollen wissen, daß Sie hier sind, Sir“, antwortete Clemency und klatschte vor Aufregung in die Hände. „Sie sollen wissen, daß sie aus Ihrem Munde etwas über sie erfahren können; sie sollen wissen, daß sie nich ganz für sie verloren is, sondern wieder nach Hause kommen wird, um ihren Vater und ihre geliebte Schwester, sogar ihre alte Dienerin, sogar mich“, sie schlug sich mit beiden Händen an die Brust, „mit dem Anblick ihres süßen Gesichts zu beglücken. Lauf, Ben, lauf!“ Und noch immer drängte sie ihn zur Tür hin, und noch immer stand Mr. Warden mit ausgestreckten Händen davor, nicht ärgerlich, doch bekümmert.
„Oder vielleicht“, sagte Clemency, rannte an ihrem Mann vorbei und griff in ihrer Erregung nach Mr. Wardens Mantel, „vielleicht is sie jetzt hier; vielleicht is sie ganz in der Nähe. Nach Ihrem Verhalten nehm ich das an. Lassen Sie mich sie sehn, Sir, wenn’s recht is. Ich hab ihr gedient, als sie ’n kleines Kind war. Ich hab gesehn, wie sie zum Stolz der ganzen Gegend heranwuchs. Ich hab sie gekannt, als sie Mr. Alfred versprochen war. Ich hab versucht, sie zu warnen, als Sie sie weglockten. Ich
Weitere Kostenlose Bücher