Alle Weihnachtserzählungen
ein furchtbarer Ort. Wenn ich ihn verlasse, werde ich die Lehre, die er mir erteilt, nicht vergessen, glaube mir. Laß uns gehen!“
Noch immer wies der Geist mit unbeweglichem Finger auf den Kopf.
„Ich verstehe dich“, gab Scrooge zurück, „und ich würde es auch tun, wenn ich könnte. Aber ich habe nicht die Kraft dazu, Geist. Ich habe nicht die Kraft.“
Wieder schien er ihn anzusehen.
„Wenn es irgendeinen Menschen in der Stadt gibt, der wegen dieses Mannes Tod ein Gefühl aufbringt“, sagte Scrooge gequält, „so zeige ihn mir, Geist. Ich flehe dich an!“
Die Erscheinung breitete für einen Augenblick ihren dunklen Umhang wie einen Flügel vor ihm aus und ließ, als sie ihn wegzog, ein Zimmer bei Tageslicht sichtbar werden, in dem eine Mutter mit ihren Kindern saß.
Sie erwartete irgendwen mit ängstlicher Spannung, denn sie lief im Zimmer auf und ab, fuhr bei jedem Geräusch zusammen, schaute aus dem Fenster, sah auf die Uhr und versuchte, allerdings vergeblich, eine Handarbeit zu machen, und konnte kaum den Lärm der spielenden Kinder ertragen.
Endlich war das lang erwartete Klopfen zu hören. Sie eilte an die Tür, ihrem Mann entgegen, dessen Gesicht abgehärmt und niedergeschlagen aussah, obwohl er noch jung war. Jetzt lag darin ein bemerkenswerter Ausdruck, eine Art ernster Freude, deren er sich schämte und die zu unterdrücken er sich bemühte.
Er setzte sich zum Essen hin, das am Feuer für ihn warm gehalten worden war, und als sie ihn zaghaft fragte (es geschah erst nach langem Schweigen), was für Neuigkeiten es gäbe, schien er in seiner Verwirrung nicht zu wissen, wie er antworten sollte.
„Steht es gut“, fragte sie, „oder schlecht?“, um ihm zu helfen.
„Schlecht“, antwortete er.
„Sind wir völlig ruiniert?“
„Nein. Es besteht noch Hoffnung, Caroline.“
„Wenn er sich erweichen läßt“, sagte sie erstaunt, „dann besteht welche! Nichts ist hoffnungslos, wenn solch ein Wunder geschehen ist.“
„Er läßt sich nicht mehr erweichen“, sagte ihr Mann. „Er ist tot.“
Sie war ein sanftes und geduldiges Geschöpf, sofern ihr Gesicht die Wahrheit sprach, aber als sie das hörte, war sie von Herzen dankbar und sagte es mit gefalteten Händen. Im nächsten Augenblick betete sie um Vergebung und bereute es, doch das erste war die Empfindung ihres Herzens gewesen.
„Was die halb betrunkene Frau, von der ich dir gestern abend erzählt habe, mir sagte, als ich versuchte, ihn zu sehen und eine Woche Aufschub zu erwirken, und was ich für eine glatte Ausrede hielt, um mich abzuweisen, stellt sich nun als volle Wahrheit heraus. Er war nicht nur sehr krank, sondern lag bereits im Sterben.“
„Auf wen werden unsere Schulden übertragen?“
„Ich weiß es nicht. Aber bis dahin werden wir das Geld zusammen haben, und selbst wenn wir es nicht hätten, wäre es wirklich großes Pech, wenn wir in seinem Nachfolger einen ebenso unbarmherzigen Gläubiger fänden. Heute nacht können wir leichten Herzens schlafen, Caroline!“
Ja. Sosehr sie es auch abschwächen mochten, ihre Herzen waren leichter. Die Gesichter der Kinder, die schweigend um die Eltern gedrängt waren, um zu hören, was sie kaum verstanden, hellten sich auf. Durch den Tod dieses Mannes war das Haus glücklicher geworden. Das einzige Gefühl, das ihm der Geist als durch dieses Ereignis verursacht zeigen konnte, war das der Freude.
„Laß mich etwas Mitgefühl sehen, das mit einem Tod verknüpft ist“, sagte Scrooge, „oder dieses düstere Zimmer, Geist, das wir eben verlassen haben, wird mir stets vor Augen stehen.“
Der Geist führte ihn durch etliche Straßen, die ihm vertraut waren, und während sie dahinliefen, blickte Scrooge hierhin und dorthin, um sich selbst zu entdecken, aber nirgends war er zu sehen. Sie betraten das Haus des armen Bob Cratchit, die Wohnung, die er schon einmal besucht hatte, und fanden die Mutter mit den Kindern um das Feuer geschart.
Still. Sehr still. Die geräuschvollen kleinen Cratchits waren so still wie Statuen in einer Ecke und sahen zu Peter auf, der ein Buch vor sich hatte. Die Mutter und ihre Töchter waren mit Nähen beschäftigt. Auch sie waren sehr still!
„Und er nahm ein Kind und stellte es mitten unter sie.“ Wo hatte Scrooge diese Worte gehört? Er hatte sie nicht geträumt. Der Junge mußte sie zu Ende gelesen haben, als er und der Geist die Schwelle betraten. Warum las er nicht weiter?
Die Mutter legte ihre Arbeit auf den Tisch und hob die Hand
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