Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Gerlof
Vom Netzwerk:
gemacht. Auf den glattgestrichenen Decken liegen die Nachthemden von Henriette und Elisa,
     lang ausgestreckt, als hätte eine Wäscheverkäuferin sie auf dem Verkaufstresen ausgebreitet.Elisas Nachthemd sieht lebendig aus. Die Stelle über dem Venushügel wird von der Bettdecke ein wenig aufgebauscht. Henriette
     schiebt die Nachthemden mit zwei schnellen Griffen unter die Decken. Dann packt sie ihren Rucksack und schielt dabei zu Elisa.
     Willst du nicht Juli anrufen, fragt sie und stopft eine Strickjacke in den Rucksack.
    Die ist doch in der Schule. Elisa hat ein Gefühl im Bauch. Juli verschwindet gerade aus ihrem Leben. So fühlt es sich an.
     Es wäre besser gewesen, ihr vor der Abreise alles zu erzählen. Dass Klara gefunden ist oder, besser, nie verschwunden war.
     Und dass sie den Verstand verliert.
    So oft schon hat Elisa versucht, sich vorzustellen, wie es ist, den Verstand zu verlieren. Oder besser, das Leben nach und
     nach zu vergessen. So wie man es vorher Stück für Stück gelernt hat. Schließlich wird es sie alle treffen. Wenn sich nichts
     anderes findet, denkt Elisa, werden wir alt und verlieren den Verstand.
    Henriette ist angezogen und aufgeregt. Sie nimmt sich den Rucksack und steckt die Wanderkarte in ihre Jackentasche. Fünf Kilometer
     durch den Wald, sagt sie und lächelt Elisa an. In zwei Stunden sind wir da.
    Elisa greift noch einmal in ihre Reisetasche und holt vier Fläschchen Kümmerling raus.
    Im Hotelfoyer ist großer Bahnhof. Zwei neue Reisegruppen sind angekommen, ein Kegelklub und eine Truppe ehemaliger Steuerbeamter.
    Jetzt schaffe ich es auch nicht mehr, das Durchschnittsalter zu senken, sagt Elisa zu Henriette. Ein Glück, dass wir heute
     Abend unsere Modelleisenbahner haben.
    Henriette nickt, als sei dies kein Scherz, und öffnet die große Glastür, durch die man gehen muss, wenn die Vergangenheit
     winkt.

 
    Juli entdeckt einen Mord in der Kiste, und das macht sie ganz wuschig. Sie versteht nicht, welchem System die Briefe und Dokumente
     und Fotos folgen, aber irgendwo mittendrin taucht ein hingerichteter Vergewaltiger auf, über den sich Klara Gedanken macht.
     Die Tagebucheintragungen der Urgroßmutter sind sowieso kaum zu verstehen. Aufgeschrieben in winziger Handschrift, die auf
     den Seiten der kleinen Vokabelheftchen große Geheimnisse malt. Keine Geschichte hat ein Ende, Klara mochte es offensichtlich,
     alles bei Andeutungen zu belassen. Als sei ihr die Vorstellung suspekt gewesen, irgendjemand könnte später wirklich begreifen,
     was gewesen war. Und so liest Juli drei Sätze über einen Mann, der vom Russen die gerechte Strafe bekommt, nachdem er einer
     Frau Gewalt angetan hat. Aber wer ist die Frau? Und woher kannte Klara den Russen?
    Drei Fotos hat Juli beiseitegelegt. Auf einem ist Elisa als Kind zu sehen. Mit einer Zahnlücke, vielleicht am Tag ihrer Einschulung.
     Juli erkennt sich wieder auf dem Bild. Diese viel zu sehr abstehenden Ohren, das kurze feine Haar und die ungleich großen
     Augen. Wie ein Heimkind, murmelt Juli und wirft einen ängstlichen Blick auf Svenja. Die liegt auf der Seite und schläft, und
     plötzlich weiß Juli, wer der Vater des Kindes ist. Nicht der tätowierte blauhaarige Streuner, sondern der dunkelblond gelockte
     Abiturient mit der Zahnspange.
    O Gott, sagt Juli, du wirst später eine Zahnspange brauchen, Svenja.
    Sie erinnert sich an die zehn warmen Nächte, in denen der Abiturient bei ihr schlief. Immer kam er mit seinen Schulbüchern
     und Malsachen. Und stets blieb er bis morgens um vier, zog sich dann leise an und ging in den Park, um zu malen. Dann kam
     er noch einmal zum Frühstück und mit frischen Brötchen, und dann ging er zur Schule. Ihr hatte es gefallen so. Unverbindlich,
     aber verlässlich, und die Nächte waren gut. Aber nach zehn guten Nächten hat sie den Abiturienten nach Hause geschickt und
     ist auf Trebe gegangen. Schon nach vier Tagen lag der blauhaarige tätowierte Streuner bei ihr. Und vier Wochen darauf war
     klar, dass vorerst kein Blut mehr fließt.
    Der Streuner hat an einem halben Tag das Geld für einen Schwangerschaftstest zusammengebettelt. Mit dem ist Juli auf die Bahnhofstoilette.
     Und weil sie so aufgeregt war, musste sie noch die Toilettenfrau fragen, was der rote Punkt im winzigen Sichtfenster zu bedeuten
     habe. Die hat ihr dann gesagt, dass er das denkbar Schlimmste verkündet. Zumindest für Juli und ihr Leben auf der Straße,
     in abbruchreifen Häusern. Der tätowierte Streuner

Weitere Kostenlose Bücher