Alle Zeit - Roman
wollte alles auf sich nehmen. Das Kind, wenn Juli es denn kriegen mochte,
die Abtreibung, wenn ihr das andere Leben lieber war. Die Schuld, die Verantwortung.
Aber es war der Abiturient, dem die Verantwortung gehörte. Nur konnte das niemand ahnen. Juli nicht und auch nicht der tätowierte
Streuner. Juli wusste nicht. Damals. Gar nichts wusste sie. Mit so einem Kind und ohne Familie. Wie das gehen sollte. Gerade
erst hatte sie sich doch vom Tod ihrer Mutter und der Mutter ihrer Mutter erholt. Noch nicht lange war das her.
Am Anfang, als die Nachricht kam vom Doppeltod, Unfall mit Todesfolge, wie es in einer Zeitung hieß, obwohl manche einen erweiterten
Selbstmord vermuteten, war sie einfach abgetaucht. Erst in den Kummer, dann inden Alkohol, dann in die Verzweiflung, dann in Lethargie und danach in eine Klinik. Dort haben sie ihr Tabletten gegen die
Lethargie und die Verzweiflung gegeben und viel auf sie eingeredet.
Der Mann, der viel auf Juli einreden musste, war selbst genauso verzweifelt wie sie. Zumindest kam es ihr so vor. Als säße
sie jeden Tag einem verzweifelten Psychiater gegenüber, bei dem sich an der rechten Schläfe eine Schuppenflechte langsam Richtung
Hals arbeitete. Oder ein Ekzem, davon verstand Juli nichts. Aber sie konnte sehen, wie sich die Echsenhaut von der Schläfe
zum Hals und unter den Hemdkragen arbeitete und wie der Mann, der eigentlich auf sie einreden sollte, immer verzweifelter
wurde.
Er empfahl Juli nach sieben Wochen wieder dem Leben. Mit ausreichend Medikamenten würde sie es schaffen. Und mit Reden natürlich.
Reden müsse sie schon weiterhin mit solchen wie ihm, hat er gesagt, und auf seinem rechten Hemdkragen lagen kleine weiße Schuppen,
die sich von der Schläfe gelöst hatten.
Juli hat die Medikamente genommen und das Reden gelassen. Worüber sollte sie sprechen, tote Mütter und tote Großmütter sind
nun mal ein Fakt, über den sich nicht mehr diskutieren lässt.
Juli schaut auf Svenja, die noch immer schläft, und erkennt den Abiturienten in deren unfertigen Gesichtszügen. Der winzige
Leberfleck an der rechten Schläfe. Den hätte sie gleich richtig deuten können. Alles andere ist noch zu konturlos. Ein Gesicht
muss auch erst lernen, bevor man es erkennt. Aber so, im Profil, lässt sich die andere Hälfte von Svenja ahnen.
Wo wird der Abiturient sein, denkt Juli. Sie steht auf und geht zum Regal. Sie zieht eine kleine bunte Holzkiste raus, in
der früher zwei Qigong-Kugeln gelegen hatten. Diekönnte sie auch gleich suchen, der Klang wäre etwas für Svenja. Gut zum Einschlafen und zum Wachwerden. In der Holzkiste liegen
ein paar Schnipsel aus Julis Leben. Auf irgendeinem dieser vielen kleinen Zettel vermutet sie die Adresse des Abiturienten.
Er hat sie ihr aufgeschrieben, bevor er ging. Mit einem dieser kleinen IKEA-Bleistifte hingekritzelt. Juli erinnert sich,
dass sie seine Schrift kaum lesen konnte, so winzig war sie. Für einen Maler, hat sie damals gedacht, schreibt er viel zu
klein. Und alle Buchstaben kippen nach links, als fürchteten sie sich davor, ans Ende der Zeile zu geraten.
Und da ist er dann, der Abiturient. Auf einem kleinen karierten Zettel stehen seine Adresse und eine Telefonnummer. Hier in
der Stadt, auf der anderen Seite des Parks muss er wohnen. Vielleicht. Bestimmt. Juli hat zwar ein Telefon, aber vielleicht
sollte sie ja auch besser einen Brief schreiben. Oder mit Svenja an seinem Haus vorbeigehen. Sie stellt sich vor, wie sie
Svenjas Wagen an der Haustür vorbeischiebt und der Abiturient gerade in diesem Moment rauskommt. Mit seinen Malsachen. Sicher
nicht, sagt Juli und legt Svenja einen Zeigefinger auf das kleine Muttermal. Es ist zu kalt zum Malen, und er ist bestimmt
schon ein richtiger Maler geworden. Oder wenigstens Student. Und was nützt es, sagt Juli und legt sich neben Svenja. Ich werde
nicht einfach hingehen und einen Vater aus ihm machen können. So etwas tut man nicht. Aber wenn wir wieder rausgehen, schauen
wir uns das Haus an, Svenja. Wir überlassen alles dem Zufall. Laufen erst durch den Park und dann zum Haus. Und wenn er wirklich
rauskommt, der Abiturient, spreche ich ihn vielleicht an. Mal sehen.
Juli legt ihren Mund ganz dicht an Svenjas rechtes Ohr. Er heißt Jakob, flüstert sie. Ich glaube, das ist ein jüdischer Name.
Aaron bringt Klara sicher zurück ins Heim. Sie ist durchfroren, und ihre Füße schmerzen, aber alles ist noch da und dran.
Nicht
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