Alle Zeit - Roman
war fünfzehn, glaube ich, als ich diesen mit Watte ausgestopften Büstenhalter fand. Da hab
ich mir dann was zusammengereimt. Viel später erst, als Franz sich schon fast um den Verstand gesoffen hatte. Da hat er dann
mal gesagt, dass ihm ja nichts anderes übriggeblieben wäre, als zur Sekretärin ins Bett zu kriechen, wo ihn Klara nie wieder
gelassen habe. Ich weiß nicht, wie das die Frauen heute machen, wenn sie die Brüste verlieren. Ob sie dann noch. Als ich dich
gestillt habe jedenfalls, musste ich mich immer bedecken. Eine blütenweiße Baumwollwindel hat mir Klara auf die Brust und
über deinen Kopf gelegt. Deshalb weiß ich nicht, ob du glücklich ausgesehen hast beim Trinken.
Elisa hat ein Gefühl, als sei diese ganze Geschichte nichts für sie. Als hätte das alles mit ihr nichts zu tun. Ihre Erinnerung
an Franz ist verschwommen und. Großväterlich. Henriette stolpert und geht auf die Knie. Das sieht zumindest so komisch aus,
dass Elisa lachen kann. Sie hilft ihrer Mutter, die nur siebzehn Jahre älter ist, auf die Beine und schaut ihr ins Gesicht.
Hast du sie deshalb später so gehasst? Weil sie dir dieses Jahr nicht erspart hat. Weil sie Franz nicht dazu bringen konnte,
mit dir zu reden?
Nein, deshalb nicht. Ich habe Klara überhaupt nicht gehasst. Sie.
Du meinst, sie hasst dich?
Hör auf, in der Gegenwart von ihr zu reden. Sie ist tot oder ohne Verstand. Beides läuft aufs Gleiche hinaus. Wir können uns
ohne Verstand nicht miteinander versöhnen. Meinst du, ich erzähle einer sabbernden alten Frau, die mich nicht erkennt, was
sie mir vielleicht einmal angetan hat? In einem anderen Jahrhundert, in einem anderen Leben? Ich weiß genug über Demenz, um
mir das zu ersparen. Und jetzt erklär mir nicht, dass ein Teil von ihr schon spüren wird, wenn ich da bin. Oder dass irgendwo
inihrem Hirn noch Platz wäre für Wiedererkennen oder Verstehen. Als ich Klara das letzte Mal sah, war sie eine schöne, kluge,
harte und amputierte Frau. Mit Watte im Büstenhalter und einer Körperhaltung, als hätte sie einen Stock verschluckt. Sie hatte
frisch blondierte Haare, und sie hat mir förmlich die Hand gereicht zum Abschied und auf Wiedersehen gesagt, als sei ich eine
Kollegin oder entfernte Bekannte.
Auf Henriettes Wangen blüht es kreisrund und rot. Elisa putzt mit dem Fäustling über die hektischen Flecken und lächelt. Ich
möchte wissen, warum wir hier durch den Schnee laufen und uns eine zerfallene Hütte ansehen wollen. Du bist doch nicht auf
Gespensterjagd, Mutter.
Henriette dreht sich um und beginnt erneut, Spuren in den Schnee zu stapfen.
Klopf, klopf, versucht es Elisa mit einem alten Witz. Doch von vorn kommt keine Reaktion. Also steigt sie schweigend in Henriettes
Fußstapfen und holt die erste Flasche Kümmerling aus der Jackentasche.
Das Haus steht tatsächlich noch. Rechts und links davon die aufgeplüschten Lebensträume, beheizbar jetzt und mit Türen und
Fenstern aus dem Baumarkt verschönert. Kaum noch Provisorien, wie sie früher gang und gäbe waren. Alles sieht auf heftig provinzielle
Art schick aus. Nur das Haus nicht, in dem Klara, Franz und Henriette so viel Zeit verbracht haben. Es steht zwischen zwei
perfekten Lebensentwürfen wie eine windschiefe Trutzburg.
Der alte Jägerzaun weist Lücken auf, die groß genug sind für Henriette und Elisa. Elisa geht vor, ihr muss nichts heilig sein.
Sie steigt durch den Zaun, stampft eine Traktorspur in den Schnee und hüpft auf die unebene Terrasse, deren Fliesen kreuz
und schief herumliegen.
Das Haus, gebaut aus langen, gleich dicken Baumstämmen, hat kaum noch Farbe. Die Fenster sind heil, und dieTür ist verschlossen. Vom Dach hängt an drei Stellen schwere, geteerte Pappe, und durch die schmutzigen Fenster kann Elisa
rote, gehäkelte Übergardinen sehen. Das haut sie nun doch um. Sie winkt Henriette ran und zeigt auf die Gardinen und wartet
auf die Tränen, die jetzt gleich aus den Mutteraugen fließen werden, und da sind sie auch schon.
So was, sagt Henriette und schnieft laut. Die haben tatsächlich die Gardinen von Klara drangelassen. Ein Stäbchen, zwei Luftmaschen,
ein Stäbchen, zwei Luftmaschen. Henriette zieht ein Taschentuch aus der Jackentasche und wischt mit kreisrunden Bewegungen
am Fenster. Nebenan hört man eine Tür aufgehen und zugehen.
Elisa wühlt in ihrem Rucksack. Das Schweizer Taschenmesser hat sie auf jeden Fall. Sie findet es und wählt die stärkste
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