Alle Zeit - Roman
flüchtigen
Kuss auf die rechte Wange und wendet sich ab, als sei das nun verbotene Ware. Zehn Minuten später sind beide Frauen wieder
auf dem Weg. Elisa macht ein letztes Foto von dem verfallenen Haus, in dem so viel von Henriette steckt und noch mehr von
Klara. Übermorgen gehen wir noch einmal her und brechen ein. Dann holen wir die gehäkelten Gardinen.
Henriette nickt und sieht glücklich aus.
Die Alten haben wieder einen Winter überstanden. Fast alle jedenfalls. Klara hat sich von der netten Pflegerin die Statistik
abgeholt. Drei sind gestorben über den langen Winter, haben es nicht mehr geschafft, bis die Krokusse blühen. Klara jedenfalls
und Aaron gehören zu den Guten. Sind noch einmal davongekommen. Oder wieder einmal, das hängt davon ab, wie man es betrachtet.
Wenn ich es bis Weihnachten ohne Windeln schaffe, spendiere ich eine ganze Rente, denkt Klara und weiß, dass es gar nicht
so geht. Die Rente ist für dieses Heim hier verplant. Sie bekommt einhundertfünfzig Euro Taschengeld im Monat. Das reicht
ihr auch, schließlich ist niemand zu beschenken. Manchmal bestellt sie bei der netten Pflegerin etwas für Aaron. Ein Rasierwasser
oder ein Buch. Er freut sich immer und über alles, was Klara ihm gibt. Inzwischen haben die im Heim auch alle verstanden,
dass Klara und Aaron so etwas wie ein Paar sind. Ein seltsames Paar, aber das kann egal sein. Wenn man alt ist, scheint so
vieles keine Bedeutung mehr zu haben.
Klara redet hin und wieder mit Aaron darüber, wenn sie allein sind. Wie wenig Bedeutung die Dinge und Ereignisse noch haben,
die in die Gegenwart gehören. Und wie wichtig die Vergangenheit wird. Allerdings ist sie nicht weitergekommen, was Aarons
Vergangenheit anbelangt. Er hört ihr immer zu, wenn sie ihre Geschichten erzählt, und stellt sie eine Frage, lächelt er und
bietet ihr etwas zu trinken an oder schlägt vor, gemeinsam in den Park zu gehen. Nichtsweiß sie über den alten Juden, obwohl sie einander nun schon fast vier Monate kennen.
Klara sitzt in ihrem Zimmer und denkt an Aaron und an die Windeln. Bis auf das erste Mal hat sie jedes Malheur selbst bemerkt,
ohne dass ihr die Pflegerinnen draufgekommen sind. Das ist eine reife Leistung, auf die sie stolz sein kann. Aber der Anlass
gibt nichts her zum Stolzsein. Das Unvermeidliche wird kommen, da ist sich Klara sicher. Sie wird verblöden und Windeln brauchen.
Wie die Nachbarin, mit der sie sich das Badezimmer teilt. Inzwischen hat sie es ja ganz für sich allein. Die Nachbarin wird
gewindelt und in dem Raum mit den Hebevorrichtungen für Demente und Lahme gebadet. Aber den Winter hat sie überstanden. Und
Besuch bekommt sie auch an jedem Wochenende. Da weiß Klara dann nicht, wer von ihnen beiden nun besser dran ist. Auf jeden
Fall hat sie sich im Bad breitmachen können, und wenn ihre Sachen vollgepinkelt sind, muss sie auch nicht mehr Rücksicht nehmen.
Kann alles selbst in der Dusche waschen und über den Heizkörper hängen. An den Sommer mag Klara allerdings nicht denken. Wenn
die Heizungen nicht mehr an sind, wird sie sich etwas einfallen lassen müssen mit den nassen Sachen.
Manchmal, wenn sie sich unsicher fühlt, pampert sie sich selbst für die Nacht. Das Wort hat sie gehört von den Pflegerinnen.
Ist die schon gepampert, fragen die sich gegenseitig, wenn sie nicht wissen, ob eine Alte schon versorgt ist oder nicht. Klara
klaut die Windeln in dem großen Badezimmer für die Dementen und Lahmen. Und verstaut sie in ihrem Schrank ganz hinten. Es
ist schon vorgekommen, dass sie den richtigen Riecher hatte. Dann war die Windel morgens nass. Mit dem Entsorgen ist es auch
nicht so einfach. Klara trägt die nassen Windeln dann wieder zurück ins große Bad und wirft sie dort inden Mülleimer. Das ist alles sehr zeitraubend, aber es lohnt sich.
Heute Nachmittag wird sie mit Aaron wieder in den Park gehen. Da kennen sie nun schon jeden Strauch, und bisher sind sie auch
immer heil wieder zurückgekommen. Das hat was damit zu tun, dass sie weiterhin nie zur gleichen Zeit den Verstand verlieren.
Sie und Aaron. Klara findet, dass dies ein Wunder ist, und Aaron glaubt, nur deshalb hätten sie sich überhaupt gefunden. Die
Natur wäre verantwortlich zu machen dafür, dass sie beide so eine Anziehungskraft gespürt hätten. Sie sorge auch noch für
die Alten und Dementen vor, die Natur. Meint Aaron.
Den Pflegerinnen jedenfalls ersparen sie noch eine Menge Arbeit. Auf
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